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Interview zur schulischen Inklusion: “Es wird massiv gebremst – und es gibt keine Anzeichen, dass sich dies ändern könnte”

BERLIN. Streitthema Inklusion: Gemeinsames Lernen erfordert Ausdauer und Investitionen, sagt Raúl Aguayo-Krauthausen, Gründer des Vereins Sozialhelden – und Streiter für ein inklusives Bildungssystem. Das Engagement der meisten Bundesländer dabei sieht er allerdings kritisch. Auf der Bildungsmesse didacta geht der Autor und Moderator mit Heinz-Peter Meidinger, Präsident des Deutschen Lehrerverbandes, in den Clinch. Der hatte ein Aussetzen der Inklusion gefordert (News4teachers berichtete).

Raúl Aguayo-Krauthausen ist Gründer des Vereins “Sozialhelden”. Foto: Esra Rotthoff / Wikimedia Commons (CC BY-SA 3.0 DE)

Herr Aguayo-Krauthausen, wo gibt es in Deutschland in puncto Inklusion an meisten Aufholbedarf?

Aguayo-Krauthausen: Die Frage kann man nicht so eindeutig beantworten, weil sich die Bundesländer sowohl in der Frage unterscheiden, wie inklusiv das Schulgesetz ist, als auch anschließend noch in der Qualität der Umsetzung. Im groben Überblick haben wir aber ein Gefälle von Nordwest (Hamburg, Bremen, Schleswig-Holstein) nach Süd und West.

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Unsere persönlichen Lieblingsfeinde sind Sachsen, Bayern, Baden-Württemberg, aber auch Hessen. Sachsen hat sich bis zur erst kürzlich erfolgten Schulgesetzänderung der Verpflichtung der UN-BRK (Behindertenrechtskonvention der UN, Anm. der Red.) komplett entzogen. Bayern hat die Inklusion zwar im Schulgesetz verankert, verzettelt sich aber in wenig inklusiven Modellen wie Kooperationsklassen und hat nach jüngsten Statistiken demografie-bereinigt heute mehr Sonderschüler als vor zehn Jahren. Eine offensive Entwicklung der inklusiven Bildung sehen wir in Hamburg und Bremen, zum Teil in Berlin, aber da unter extrem schlechten personellen Bedingungen, und bisher in Schleswig-Holstein. Dort deutet sich aber seit dem Regierungswechsel eher der Rückwärtsgang an. Auch in Nordrhein-Westfalen befürchten wir inzwischen ein Rollback.

Fast jedes Bundesland geht bei der Inklusion einen anderen Weg. Wie kann mehr Vereinheitlichung erreicht werden?

Aguayo-Krauthausen: Dies ist eigentlich Aufgabe der Kultusministerkonferenz. Die dortigen Diskussionen über Standards für inklusive Qualität sind aber sehr zäh. Darin spiegelt sich natürlich, dass viele der beteiligten Länder die inklusive Entwicklung nicht gerade mit Begeisterung vorantreiben. Es wird massiv gebremst. Es gibt keine Anzeichen, dass sich dies ändern könnte.

Unserer Auffassung nach ist dies trotz Länderhoheit in der Bildung inzwischen ein Fall für die Bundesregierung. Die ist schließlich der UNO gegenüber verpflichtet, die UN-BRK im ganzen Land umzusetzen. Das Bundesbildungsministerium stellt sich jedoch bisher tot. Hoffnung könnte man mit einem Nationalen Bildungsrat verbinden, den der Bund ja plant. Allerdings müssten in diesem Nationalen Bildungsrat dann auch Experten zum Thema Inklusion vertreten sein, und vor allem auch Betroffene. Dies ist von der Bundesbildungsministerin aber bisher nicht vorgesehen.

Ist die Diskussion rund um die Inklusion eher ideologisch oder finanziell geprägt?

Aguayo-Krauthausen: Es gibt beide Strömungen. Viele Diskutanten haben große Schwierigkeiten, Schule als Orte der individuellen Förderung ganz unterschiedlicher Schülerinnen und Schüler zu denken. Und halten stattdessen am Konstrukt der homogenen Jahrgangsklassen fest, in denen alle in derselben Zeit denselben Stoff mit derselben Methode lernen. Das ist natürlich der größtmögliche Gegensatz zu inklusiver Schule. Eine inhaltlich skeptische Meinung zur inklusiven Bildung wird aber auch oft hinter finanziellen Aspekten verborgen. Man bekennt sich zur Inklusion, aber nur unter der Bedingung, dass völlig utopische sächliche und personelle Rahmenbedingungen vorhanden seien. Die finanzielle Diskussion wird auch völlig oberflächlich geführt. Dann werden angeblich zusätzliche Kosten der Inklusion beklagt und dabei völlig vergessen, welche hohen Mittel bis heute in die Sonderschulen fließen.

Raúl Aguayo-Krauthausen

Als Autor, Moderator und Inklusions-Aktivist arbeitet der studierte Kommunikationswirt seit über 15 Jahren in der Internet- und Medienwelt. Aguayo-Krauthausen hat Osteogenesis imperfecta (umgangssprachlich als „Glasknochen“ bezeichnet) und ist selbst auf einen Rollstuhl angewiesen. Er ist Gründer und Sprecher der des gemeinnützigen Vereins SOZIALHELDEN, dessen Projekt Mernschen mit Berhinderungen den Alltag erleichtern sollen. 

2013 wurde Raul Aguayo-Krauthausen mit dem Bundesverdienstkreuz am Bande ausgezeichnet und im Januar 2014 veröffentlichte er seine Biographie „Dachdecker wollte ich eh nicht werden – Das Leben aus der Rollstuhlperspektive“. Seit 2015 moderiert er mit „KRAUTHAUSEN – face to face“ seine eigene Talksendung zu den Themen Kultur und Inklusion auf Sport1. Auf der didacta, der weltweit größten Bildungsmesse vom 19. bis 23. Februar 2019 in Köln, tritt Aguayo-Krauthausen zum Thema Inklusion auf.

Forum Bildung
Inklusion in der Schule: Welcher Weg führt zum Erfolg?

  • Raúl Aguayo-Krauthausen, Inklusions-Aktivist und Autor
  • Heinz-Peter Meidinger, Präsident des Deutschen Lehrerverbandes
  • Eva-Maria Thoms, 1. Vorsitzende mittendrin e. V.

21.02.2019
11:00 – 12:00 Uhr
Halle 7, D040/ E041
Veranstalter: Verband Bildungsmedien e.V.

Der Beitrag wird auch auf der Facebook-Seite von News4teachers diskutiert.

Gymnasien verabschieden sich von der Inklusion – Gutachten attestiert NRW Rückschritte auf dem Weg hin zum gemeinsamen Unterricht

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