Ein Kommentar von News4teachers-Herausgeber Andrej Priboschek
BERLIN. Eine Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung über die Einstellung der Deutschen zur Demokratie hat in dieser Woche für Schlagzeilen gesorgt: Fast die Hälfte der Bürger meint demnach, die Politik hierzulande werde von geheimen Organistionen bestimmt. Sofort kamen Forderungen auf, die Schulen sollten sich um eine bessere politische Bildung kümmern. Das aber geht nicht mal eben nebenbei.
Die gute Nachricht: Bekennende Nazis gibt es in Deutschland nur relativ wenige. Zwei bis drei Prozent der Bevölkerung, so ergab eine Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung, die in dieser Woche für Schlagzeilen sorgte, zeigen eindeutig und offen rechtsextreme Einstellungen.
Das heißt nun aber nicht, dass das Gros der Bürger in Deutschland die Demokratie ins Herz geschlossen hätte. Sicher, ein formales Bekenntnis zu ihr geben fast alle ab (86 Prozent). Mit demokratischen und vor allem rechtsstaatlichen Prinzipien halten es allerdings schon deutlich weniger: Fast ein Drittel meint, die Demokratie führe eher zu “faulen Kompromissen” als zu sachgerechten Entscheidungen – und mehr als ein Drittel spricht sich gegen die Idee gleicher Rechte für alle aus.
Ebenso verstörend: Verschwörungstheorien finden hohen Zuspruch. So meinen 46 Prozent der Befragten, es gäbe geheime Organisationen, die Einfluss auf politische Entscheidungen haben. Fast ein Viertel der Befragten meint, Medien und Politik steckten unter einer Decke, und jede zweite befragte Person gibt an, den eigenen Gefühlen mehr zu vertrauen als Experten.
Das zeigt zweierlei: Zum einen verstehen (zu) viele Menschen die Funktionsweise eines demokratischen und deshalb naturgemäß komplizierten Staatsgebildes nicht. Ein politisches System, das nicht auf den friedlichen Ausgleich widerstreitender Interessen baut (= Kompromiss) und das Menschen unterschiedliche Rechte zuweist, ist nunmal keine Demokratie, allenfalls das autoritäre Zerrbild einer solchen (wie es sich etwa in Russland und der Türkei begutachten lässt). Zum anderen zeigt der Befund, wie anfällig viele Menschen für Lügen sind, die im Internet verbreitet werden. Wer seinem „Gefühl“ mehr vertraut als der Wissenschaft, der ist im Grunde ein mittelalterlicher Mensch: Von den Lehren der Aufklärung („wage es, weise zu sein“) keine Spur.
Unabhängig von der Studie hat in dieser Woche der renommierte Bildungsforscher Prof. Gerd Gigerenzer, Direktor des Harding-Zentrums für Risikokompetenz am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, davor gewarnt, dass die Demokratie in Deutschland zu einer Internet-Diktatur nach chinesischem Vorbild mutiert. In China kontrolliert die Regierung sämtliche Daten ihrer Bürger. Das System ist höchst effizient: Von der Kommunikation übers Bezahlen bis hin zur Mobilität wird im Reich der Mitte alles über den (staatlichen) Smartphone-Dienst WeChat abgewickelt, was das Regime in die Lage versetzt, angepasstes Verhalten zu belohnen – und Kritik durch Entzug von Möglichkeiten zu sanktionieren.
Das wird derzeit tatsächlich erprobt. Wer zu wenig „Sozialpunkte“ sammelt, kann dann eben kein Busticket mehr bekommen. Und wer die Regierung kritisiert, wird womöglich in keinem Geschäft mehr einkaufen können. Automatisch herausgefiltert aus der gigantischen Datenwolke des gesamten Landes. Es braucht wenig Fantasie, sich vorzustellen, was die Nationalsozialisten anno 1933 aus solchen Möglichkeiten gemacht hätten. Gigerenzer sagt denn auch voraus, dass das Modell Schule machen wird: Weltweit jede Diktatur wird versuchen, einen ähnlichen Kontrollapparat aufzubauen.
Die Demokratiebildung in der Schule hat im Zuge der aktuellen politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen an Bedeutung gewonnen. Schülerinnen und Schüler sollen lernen, sich als Part der Gesellschaft zu begreifen, der diese aktiv verändern kann. Doch wie können Lehrkräfte dies erreichen? Unterstützung bietet der kostenlose Online-Kurs „Citizenship Education – Demokratiebildung in Schulen“, den die Bertelsmann Stiftung zusammen mit dem Institut für Didaktik der Demokratie an der Leibniz Universität Hannover entwickelt hat.
Ein Albtraum? Für viele Bürger in Deutschland wohl eher nicht, mutmaßt Gigerenzer: Eines Tages stelle sich die Frage, ob unsere langsame und komplizierte Demokratie mit ihren „faulen Kompromissen“ (womit wir wieder bei der Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung wären) gegenüber dem höchst leistungsstarken chinesischen Modell mithalten könne. Gigerenzer fragt: Wie würde ein Volksentscheid zur Einführung von Punktekonten in Deutschland wohl ausgehen?
Seine Schlussfolgerung: „Wir brauchen zu allererst eine bessere digitale Bildung der Bürger. Unsere Regierung versteht darunter, dass jeder Schüler ein Tablet bekommt. Ich verstehe darunter die Jugendlichen so kompetent zu machen, dass sie die Kontrolle über ihr Smartphone oder das Tablet bekommen.“
Die Forderung: Die Schulen sollen das machen – mal eben
Dazu gehört meines Erachtens zwingend eine politische Bildung, die die Grundlagen, Funktionsweisen und Prinzipien der rechtstaatlichen Demokratie vermittelt – und die vor allem eins tut: jungen Menschen den Wert individueller Freiheit als Fundament einer demokratischen Gesellschaft nahezubringen.
Nun ist die Forderung, die Schulen sollten das mal eben machen, wohlfeil – und war tatsächlich auch prompt in dieser Woche allenthalben zu hören (bis hin zur Bundesbildungsministerin Anja Karliczek, die erklärte: “Vertrauen in die Demokratie kann auch gelernt werden. Dieses Lernen beginnt in der Familie, aber gerade auch die Schule kann hier vieles leisten.”) Das Problem: Demokratie, schon gar kein Vertrauen in diesselbe, lässt sich nicht mal eben in zwei, drei Unterrichtsstunden vermitteln – sich informieren, diskutieren, streiten, Kompromisse finden, mitbestimmen, das alles braucht Übung und damit Zeit. Nicht nur einmal, sondern immer wieder und wieder. Haben Lehrer und Schüler diese Zeit? Wohl kaum.
Wir müssen reden: über Lehrpläne – über die Inhalte, die in Schule vermittelt werden müssen. So schmerzhaft das ist: Mit den tradierten Stoffen im bisherigen Umfang werden sich die Herausforderungen, vor denen Deutschland und unsere Gesellschaft in einer zunehmend von digitalen Diktaturen geprägten Welt steht, nicht bewältigen lassen. Latein zu lernen, ist sicher erhellend. Deutsche Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts ist zweifellos lesenswert. Und vielleicht findet sich sogar hin und wieder ein Pubertierender, bei dem mathematische oder physikalische Formeln haften bleiben.
Die Bedeutung von Demokratie, Freiheit und Menschenrechten sowie die Prinzipien der immer stärker unser Leben bestimmenden Digitalisierung lassen sich damit in der Breite aber nicht vermitteln. Wie gesagt: Immer nur darüber reden, was die Schule zusätzlich leisten soll, ist ebenso billig wie folgenlos. Der Tag hat nunmal nur 24 Stunden, und die Leistungsfähigkeit von Lehrern ist ebenso wie die Aufnahmefähigkeit von Schülern naturgemäß endlich. Wer es ernst meint, muss auch die Konsequenz benennen, dass ein Mehr an einer Stelle ohne Einschnitte an anderer eben nicht geht.
Hier geht es zur Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung.
BERLIN. „Der zunehmenden Verrohung der Umgangsformen in unserer Gesellschaft und antidemokratischen und antipluralistischen Tendenzen muss bereits in der Schule durch eine intensivere Werte- und Demokratieerziehung begegnet werden“, kommentiert der Bundesvorsitzende des Verbandes Bildung und Erziehung (VBE), Udo Beckmann, anlässlich der im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung veröffentlichen „Mitte-Studie“.
„Wenn in der jüngeren Generation gestiegene Zustimmungen zu fremdenfeindlichen und rechtsgerichteten Einstellungen festzustellen sind, muss das ein Alarmsignal für uns als Gesamtgesellschaft sein, dem wir bereits in der Schule begegnen müssen“, so Beckmann. „Eltern wie auch Lehrkräften ist das Thema Werte- und Demokratieerziehung an Schule elementar wichtig, wie eine vom VBE beauftragte Umfrage zum Thema Werteerziehung zeigt. Was die Studie aber auch mehr als deutlich macht ist, dass Schulen häufig die für eine adäquate Umsetzung notwendigen Gelingensbedingungen verweigert werden. Hier braucht es eine entschiedenere Unterstützung durch die Politik“, fordert Beckmann.
„Dass jede Schülerin und jeder Schüler im Laufe der Schullaufbahn ein Grundgesetz erhalten soll, wie es die Kultusministerkonferenz (KMK) jüngst empfohlen hat, ist zwar begrüßenswert, allerdings ersetzt die Übergabe eines Buches noch nicht die fehlende Zeit zur Auseinandersetzung mit demokratischen Werten und die Verankerung in den Lehrplänen. Und die ist notwendig, um negativen Entwicklungen, wie sie die „Mitte-Studie“ aufzeigt, von Anfang an entgegenzuwirken“, erläutert Beckmann.
Der VBE hat auf Basis der Ergebnisse der vom ihm beauftragen Werteerziehungsumfrage folgende Forderungen formuliert:
- Die feste fächerübergreifende Verankerung und deutlich stärkere Priorisierung aller Erziehungs- und Bildungsziele in den Lehrplänen von Schulen.
- Mehr Flexibilität, freie Gestaltungsräume und vor allem mehr Zeit für Schule, um Werte- und Demokratieerziehung zu implementieren und erlebbar machen zu können.
- Basierend auf einem Diskurs von Politik und Gesellschaft die Verständigung auf einen gemeinsamen Wertekanon, der Orientierung für alle Schülerinnen und Schüler, Lehrerinnen und Lehrer und Eltern bietet.
- Entschiedenes Handeln von der Politik, welches für die Bereitstellung der notwendigen Ressourcen, Rahmenbedingungen und Unterstützungsleistungen sorgt. U. a.:
- die Einsetzung multiprofessioneller Teams,
- den Ausbau von qualitativer, werteorientierter Ganztagsschule und
- adäquate Voraussetzungen für die Erziehungspartnerschaft zwischen Lehrkräften und Eltern.
- Ein verbessertes, intensiveres und standardisiertes Angebot von Veranstaltungen zur Werteerziehung in allen Phasen der Lehreraus- und -fortbildung, welches die intensive Auseinandersetzung mit dem eigenen Werteverständnis zum Ziel hat.
- Ein verstärktes gesellschaftliches Engagement, welches außerschulische Angebote an Schule heranträgt und Lehrerinnen und Lehrer bei der Werteerziehung unterstützt.
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KMK: Jeder Schüler soll ein Grundgesetz bekommen – VBE: Demokratie-Erziehung ersetzt das nicht