BERLIN. Der Präsident der Hochschulrektorenkonferenz, Peter-André Alt, stellt große Defizite bei Abiturienten fest. „Es gibt gravierende Mängel, was die Studierfähigkeit zahlreicher Abiturienten angeht“, sagte er dem Redaktionsnetzwerk Deutschland. „Wir leben in der Fiktion, dass mit dem Abitur die Voraussetzungen für das Studium erfüllt sind. Die Realität zeigt: Viel zu oft stimmt das nicht.“ Alt macht vor allem eines für die Entwicklung verantwortlich: die Digitalisierung.
Das gelte insbesondere für die Fächer, in denen Mathematik die Grundlage ist. «Die Studienanfänger erfüllen die Voraussetzungen deutlich schlechter als früher.» Aber auch in Sachen Textverständnis und Schreibfähigkeiten gebe es kritische Rückmeldungen aus den Hochschulen. „Selbst Literaturwissenschaftler sagen: Es wird immer schwieriger, die jungen Menschen in den Seminaren zum Lesen zu bringen. Längere Texte zu lesen und zu schreiben falle den Studierenden schwerer.“ Es habe offenbar eine erhebliche Verschlechterung innerhalb der vergangenen fünf Jahre gegeben.
Was ist in diesem Zeitraum passiert? Laut Alt zeigen sich hier die Folgen einer im Alltag und im Berufsleben explodierenden Digitalisierung. „Auch die meisten Erwachsenen merken, dass sich in Zeiten der Digitalisierung ihre Lesegewohnheiten verändert haben. Es werden heute im Alltag vermutlich sogar mehr Texte gelesen als früher, aber sie werden vom Einzelnen oft nur noch selektiv durchgescannt. Wie oft lesen wir wirklich noch einen Text vom Anfang bis zum Ende? Junge Menschen, die mit einer solchen Lesekultur aufwachsen, tun sich schwerer, sich auf einen Text zu konzentrieren“, sagt der Professor für Literaturwissenschaft – und fordert ein Gegensteuern.
“Dazu müssen wir die Schüler zwingen”
Alt wörtlich: „Es ist pädagogisch wichtig, darauf zu bestehen, dass das Handy auch mal für längere Zeit ausgeschaltet ist. Junge Menschen sind heute sicherlich besser fähig, mehrere Dinge nebeneinander zu tun, als wir es je waren. Das finde ich gut. Aber jeder sollte sich auch intensiv und ohne Ablenkung auf eine Sache konzentrieren können, ob beim Lesen oder auch in der Mathematik. Dazu müssen wir die Schüler zwingen. Oder, freundlich ausgedrückt: Wir sollten ihnen die Chance dazu geben.“
Ein weiterer Grund für den von ihm beschriebenen Niveauverlust ist der ungebrochene Ansturm auf das Gymnasium. „Es wäre naiv zu glauben, es würde sich nichts dadurch ändern, dass bald die Hälfte eines Jahrgangs Abitur macht“, meint Alt.
Eine Konsequenz der Entwicklung: Es müsse ein Debatte darüber geführt werden, wie die Bildung aussehen soll, die die Schulen vermitteln. Alt übte in diesem Zusammenhang Kritik am Konzept der Kompetenzorientierung, wie es PISA-Chef Andreas Schleicher vertritt. „Das klingt beim ersten Hören überzeugend, aber ganz so einfach ist es nicht“, meint Alt. „Studiengänge bauen gerade in der Bachelor-Phase auf Wissen auf, das die Studierenden aus der Schule mitbringen sollten. Und: Die Studierenden brauchen zwingend die Fähigkeit, Faktenwissen auch in großen Mengen auswendig zu lernen. Anders geht es in Naturwissenschaften, in der Medizin, in Jura, aber auch in den Geschichtswissenschaften gar nicht. Das Wissen ist wie ein Rohbau, auf dem das restliche Gebäude errichtet wird. Wenn es zu viele Lücken gibt, fehlt es an den Grundlagen. Daran scheitern viele.“
“Die Reproduktion von Fachwissen verliert an Bedeutung”
Schleicher hatte im Interview mit News4teachers zur Zukunft der Bildung in Zeiten der Digitalisierung erklärt: „Das Wissen wird weiterhin von Bedeutung bleiben. Aber auch hier sehen wir eine Verschiebung. Die Reproduktion von Fachwissen verliert ganz klar an Bedeutung. Das kann Google besser und schneller. Wichtiger wird ein epistemisches Verständnis: Kann ich denken wie ein Mathematiker? Kann ich denken wie ein Naturwissenschaftler? Kann ich denken wie ein Historiker? Wenn wir zum Beispiel an die Geschichte denken: Im Zeitalter der Digitalisierung macht es wenig Sinn, sich Namen oder Plätze zu merken. Denn das ist im Grunde totes Wissen. Wichtiger ist: Kann ich erkennen, wie sich das Narrativ der Gesellschaft entwickelt hat? Warum hat es sich so entwickelt? Kann ich die historischen Prozesse verstehen? Übertragen auf die Naturwissenschaften heißt das: Kann ich ein Experiment konzipieren? Oder Grundsätzlicher: Kann ich unterscheiden zwischen Erkenntnissen, die man wissenschaftlich verstehen kann und Behauptungen, an die man glauben muss. Ich denke, dass ist das Entscheidende. Nicht das Anhäufen von Fachwissen, sondern die Kenntnis der Strukturen.“ News4teachers / mit Material der dpa
Hier geht es zum vollständigen Interview mit Prof. Peter-André Alt.
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