BERLIN. Nach dem umstrittenen Mathe-Abitur, das in drei Bundesländern zu Nachbesserungen bei der Benotung geführt hat, beginnt die Aufarbeitung: Wie lässt sich verhindern, dass immer wieder so viele Schüler und Studenten an dem Fach scheitern? In Niedersachsen soll jetzt eine Broschüre helfen, Abiturienten besser auf die Uni vorzubereiten. Grundsätzlicher wird der Wissenschaftsjournalist und designierte Ehrendoktor des Fachbereichs Bildungswissenschaften der Universität Koblenz-Landau, Ranga Yogeshar. „Wir müssen Schüler für die Schönheit der Mathematik begeistern“, so fordert er in einem Interview.
„Wir entlassen Menschen ins Leben, die nach der letzten Prüfung nie wieder auch nur irgendetwas über Mathematik wissen wollen. Viele haben sogar ein regelrechtes Trauma“, sagte Yogeshwar, der selbst Experimentelle Elementarteilchenphysik und Astrophysik studiert hat, gegenüber der „Süddeutschen Zeitung“. Dabei habe das Fach viel zu bieten. „Mathematik ist ein wundersames Spiel mit überraschenden Zusammenhängen, eine Kunstform, die man ausfüllen kann wie Musik. Da steckt so viel Spannendes drin, das Mysterium der Primzahlen, die Magie der Endlos-Zahl Pi. Oder Geometrie, da kann ich weinen vor Begeisterung.“
Davon allerdings erführen Schüler meist nur wenig. „Mathe auf der Schule hilft uns im Leben überhaupt nicht. Sie nützt einem leistungsorientierten System, das nur auf irgendwelche blöden Punkte starrt statt auf die Sache selbst“, erklärte Yogeshwar. Mathematik werde für Prüfungszwecke missbraucht. „Dadurch erleben sehr viele Menschen sie nicht als Fach, das dir die Augen öffnet, sondern als Inquisition, die darüber richtet, wie deine Schulkarriere aussieht.“ Das gelte auch für die Hochschulen. „Die Abbrecherquoten sind enorm hoch, und der wesentliche Killer dabei ist die Mathematik. Wie absurd, wir kämpfen doch um Fachleute, wir brauchen die Leute, die Maschinenbauer, Physiker, Elektrotechniker werden wollen“, so betonte der Fernsehjournalist.
Tatsächlich haben nach jüngsten Zahlen des Deutschen Zentrums für Hochschul- und Wissenschaftsforschung (DZHW) im Absolventenjahrgang 2016 bundesweit 42 Prozent der Fachhochschulstudenten und 39 Prozent der Universitätsstudenten ihren Bachelor in Mathematik und Naturwissenschaften abgebrochen – vor allem wegen Leistungsproblemen.
Es müsse im Mathe-Unterricht gelingen, so Yogeshwar, Neugier zu wecken – wie das möglich sei, lasse sich beispielsweise auf Youtube, im Kanal 3Blue1Brown, sehen. „Das ist ein Blogger, der komplexe mathematische Phänomene mit toll animierten Grafiken und in einfacher Sprache erklärt. Er hat 1,8 Millionen Abonnenten und Videos, die über vier Millionen Mal abgerufen werden. Und das sind sicher nicht lauter Nerds, sondern Menschen, die Freude an lebendiger Mathematik haben. Da steckt ein Begeisterungspotenzial drin, von dem sich die Schulen etwas abschneiden können“, meinte Yogeshwar.
Broschüre soll Schüler helfen, sich besser zu orientieren
Das Land Niedersachsen übt sich derweil in Pragmatismus jenseits einer solchen Grundsatzdebatte. Es gibt als erstes Bundesland eine Broschüre heraus, die Schülern den Übergang zum MINT-Studium erleichtern soll. Das 65 Seiten umfassende Heft enthält Aufgaben aus den Bereichen Geometrie, Algebra und Stochastik. „Das Papier trägt dazu bei, Studienabbrüche zu vermeiden“, hofft Wissenschaftsminister Björn Thümler (CDU). Oft würden Studienanfänger der sogenannten MINT-Fächer Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik an fehlendem Vorwissen scheitern.
„Wir wollen mit dem Papier niemanden abschrecken“, beteuert Kathrin Thiele, Professorin an der Hochschule Braunschweig/Wolfenbüttel. Auch Studienanfänger mit Schwächen könnten gute Ingenieure werden, wenn sie an ihren Defiziten arbeiten. Thiele ist in einer von mehreren Arbeitsgruppen des Wissenschaftsministeriums sowie des Kultusministeriums. Dabei tauschen sich Fachleute aus Schulen und Hochschulen über die Anforderungen der unterschiedlichen Bildungsstätten aus. Nach Ansicht des DZHW kann das Heft Schülern helfen, ihre Mathematik-Kompetenzen besser einzuschätzen und sich vorzubereiten.
Ranga Yogeshwar fordert mehr – nämlich: Freude an der Mathematik zu vermitteln. Er sagt: “Wenn man Spaß hat, lernt man. Zumindest bei mir ist das so.” News4teachers / mit Material der dpa
Hier geht es zum kompletten Interview der „Süddeutschen Zeitung“ mit Ranga Yogeshwar.
Der Beitrag wird auch auf der Facebook-Seite von News4teachers diskutiert.
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