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100 Jahre Grundschule – Steinmeier: “Es geht noch immer darum, mehr Chancengerechtigkeit zu verwirklichen”

FRANKFURT/MAIN. Vor 100 Jahren wurde die Grundschule erfunden. Erstmals saßen alle Schichten gemeinsam in einer Schulbank. Damals wie heute war die Grundschule «eine Schule der Demokratie», sagt der Bundespräsident in einer Feierstunde. Maresi Lassek, die Bundesvorsitzende des Grundschulverbands, bringt die aktuellen Herausforderungen, vor denen die Grundschule stehen, zur Sprache.

Würdigte die Arbeit der Grundschulen in Deutschland: Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier. Foto: Bundespräsidialamt

Gemeinsames Lernen in der Grundschule ist für Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier unerlässlich für den Zusammenhalt der Gesellschaft. «Hier werden die Weichen gestellt für die Zukunft unserer Demokratie», sagte Steinmeier am Freitag in der Frankfurter Paulskirche. Anlass war ein Doppeljubiläum: Seit 100 Jahren gibt es Grundschulen in Deutschland, seit 50 Jahren den Grundschulverband. Die Grundschule zähle «zu den großen demokratischen Errungenschaften des Jahres 1919», sagte Steinmeier. «Demokratie lernen, das waren damals die großen Ziele, die bis heute aktuell geblieben sind.»

Grundschulen gleichen früh aus, was in manchen Elternhäusern nicht gelingt

Grundschulen seien «ein Ort, an dem das Miteinander ganz verschiedener Menschen Tag für Tag gelingt», sagte Steinmeier. Auch hundert Jahre nach der Gründung der Grundschule gehe es in Deutschland «noch immer darum, mehr Chancengerechtigkeit zu verwirklichen». Das könne nur gelingen, «wenn wir schon früh ausgleichen, was in manchen Elternhäusern nicht vermittelt wird. Wir dürfen nicht zulassen, dass schon in den Vor- und Grundschuljahren Klassenunterschiede entstehen oder sich verfestigen.»

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Die Bundesvorsitzende des Grundschulverbands, Maresi Lassek, forderte eine längere Grundschulzeit, kleinere Klassen, mehr Geld und gleiche Bedingungen in allen Bundesländern. Nur vier Jahre gemeinsames Lernen reichten nicht aus: «Die Potenziale besonders von Kindern, die unter schwierigen Lebensbedingungen aufwachsen, können sich in unserem Schulsystem nicht ausreichend entfalten.»

Lassek: Grundschulen sind finanziell zu schlecht ausgestattet

Grundschulen seien im Vergleich zu anderen Schulformen finanziell zu schlecht ausgestattet. Die Finanzierung von Bildung müsse vom Kopf auf die Füße gestellt werden. Dann wäre es möglich, wenigstens in den ersten Jahrgängen kleinere Klassen zu bilden. «Skandalös» findet Lassek, dass Kinder nicht in allen Bundesländern vergleichbare Bedingungen vorfänden. Sie forderte bundesländerübergreifend schnelle und effektive Maßnahmen gegen Lehrermangel. Es sei an der Zeit, über eine gleichwertige Bezahlung von Lehrkräften zu diskutieren.

«Schule muss ein Ort sein, an dem Kinder demokratisches Miteinander erleben und demokratisch handeln lernen, sagte Lassek – in einer «Dialogrunde» mit Kindern, Lehrern und Eltern wurde klar, dass das nicht immer gelingt. Eine Abiturientin und Mitorganisatorin von «Fridays for Future» nannte die Arbeit in der Schülervertretung «extrem frustrierend», sie habe nicht das Gefühl, viel bewegen zu können. Ein Elternvertreter sprach von einem «erheblichen Demokratieproblem»: Eltern, die sich in der Schule engagierten, bildeten nicht die gesamte Gesellschaft ab. Es müssten dafür auch Menschen gewonnen werden, «die nicht mir der Schule per Du sind». dpa

Wörtlich aus den Reden

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier sagte laut Redemanuskript:

„Ich finde, es ist ein Verdienst der führenden Bildungspolitiker der Weimarer Koalition, dass sie damals um Kompromisse rangen und die gemeinsame Grundschule durchsetzen konnten, allen Widerständen zum Trotz.

Denn nun kamen, zumindest in den vier untersten Klassen, plötzlich Kinder aus den verschiedensten Elternhäusern zusammen. Kinder, die vorher oft nichts miteinander zu tun gehabt hatten. Und ich könnte mir vorstellen, dass das, was wir heute gern Heterogenität nennen, für die Lehrer auch damals eine Herausforderung war. Die Grundschule der Weimarer Republik wurde jedenfalls zu einer anderen Schule, in der auch neue Unterrichtsformen ausprobiert wurden.

Viele Demokraten knüpften damals große Hoffnungen an diese Schulreform. Sie wollten den Zusammenhalt in der tief gespaltenen Gesellschaft stärken, Fundamente für ein demokratisches Miteinander legen. Und sie wollten mehr Gerechtigkeit im Bildungswesen schaffen. Auch nach der Grundschule sollte die Schullaufbahn von “”Anlage und Neigung”” abhängen, nicht von der Herkunft oder dem Bekenntnis der Eltern. “”Freie Bahn jedem Tüchtigen””, das war so ein Slogan, der heute ein bisschen oldschool klingt, damals aber – im Kampf gegen Standesprivilegien – revolutionär war.

Die Grundschule für alle war damals der Versuch, jedem einzelnen Kind, aber auch der jungen deutschen Demokratie den Weg in eine erfolgreiche Zukunft zu ebnen. Sie zählt zu den großen demokratischen Errungenschaften des Jahres 1919; sie steht für den Aufbruch in eine gerechtere Gesellschaft, genauso wie das Frauenwahlrecht oder die Mitbestimmung durch Betriebsräte.

(…)

Das große Versprechen der Weimarer Verfassung, eine für alle gemeinsame Grundschule zu schaffen, ist heute an vielen Orten in unserem Einwanderungsland erfüllt. Wie an keiner anderen staatlichen Institution kommen hier Kinder unterschiedlicher Herkunft, Kultur und Religion, Kinder aus unterschiedlichen sozialen Schichten, Kinder mit und ohne Behinderung, zusammen, um miteinander und voneinander zu lernen.

Die allermeisten Grundschulen in unserem Land sind seit vielen Jahren ein Ort, an dem das Miteinander ganz verschiedener Menschen Tag für Tag gelingt. Sie erleben das täglich, und ich habe es bei meinen vielen Schulbesuchen zwischen Flensburg, Greifswald und Berchtesgaden erlebt.

Und die Grundschulen leisten dabei unglaublich viel. Sechs- bis Zehnjährige mit den unterschiedlichsten Startvoraussetzungen lernen hier Lesen, Schreiben und Rechnen – das ist die Hauptsache und oft schwierig genug. Aber sie lernen hier eben auch, mit kultureller und individueller Vielfalt umzugehen, einander zuzuhören und Konflikte zu lösen. Sie lernen sich zu artikulieren, zu argumentieren, digitale Technik zu beherrschen, Verantwortung für sich und für andere zu übernehmen.

An den Grundschulen in unserem Land werden die Grundlagen gelegt für die Zukunft unserer Kinder und Enkelkinder. Und hier werden die Weichen gestellt für die Zukunft unserer Demokratie. Was an den Grundschulen geschieht, das geht uns alle an – als Lehrerinnen und Lehrer, Eltern und Großeltern, aber auch als Bürgerinnen und Bürger.“

Die Bundesvorsitzende des Grundschulverbands, Maresi Lassek, sagte in ihrer Rede laut Manuskript:

„Unser Anspruch ist eine allseitige Bildung, bei der es selbstverständlich – aber nicht nur – um Kulturtechniken geht, und  um die Gesamtentwicklung des Kindes. Kinder brauchen musisch-kulturelle Angebote genauso wie  Erfahrungen und Gelegenheiten zur Kommunikation, das Bewähren im sozialen Miteinander, die Chance zu lernen sich zu organisieren und Verantwortung zu übernehmen und – nicht zuletzt – bei Entscheidungen mitzubestimmen.

Maresi Lassek, die Bundesvorsitzende des Grundschulverbands. Foto: Grundschulverband

Auf den Anfang kommt es an: Die Grundschule ist das Fundament des Schulsystems. Die Grundschulen sind nicht nur im Vergleich der Schulstufen schlecht ausgestattet, sondern auch im internationalen Vergleich mit wirtschaftlich ähnlich aufgestellten Ländern. Der Grundschulverband fordert seit Jahren, die Bildungsfinanzierung vom Kopf auf die Füße zu stellen. Ein wichtiger Schritt wäre, zumindest in den ersten Jahrgängen kleinere Klassen zu bilden.

Der Lehrermangel und der Mangel an pädagogischen Fachkräften treffen besonders deutlich Schulstandorte, an denen Herausforderungen ohnehin kumulieren. Alle Grundschulen brauchen eine qualitätsvolle Personalausstattung. (…) Diskutiert wird endlich eine gleichwertige Bezahlung von Lehrkräften.  Um Benachteiligungen nicht zu verschärfen und damit den gesellschaftlichen Zusammenhalt nicht weiter zu gefährden, braucht es schneller und bundesländerübergreifend effektive Maßnahmen, um auf den aktuellen Lehrermangel zu reagieren. Zusammenarbeit ist gefragt von Bund, Ländern, Kommunen und Verbänden.“  (…)

Für die Umsetzung von inklusivem Unterricht in Schulen fehlt es nicht an didaktischem Repertoire, es mangelt an Gesamtkonzepten und der Ausstattung. Die staatliche Verpflichtung zur Inklusion im Bildungsbereich wird bei weitem noch nicht erfüllt.

(…)

Schule wird als sozialer Raum der Begegnung und Auseinandersetzung mit vielfältigen Erfahrungen und  Sichtweisen  immer wichtiger. Und – Schule muss ein Ort sein, an dem Kinder demokratisches Miteinander erleben und demokratisch handeln lernen.

Längst selbstverständlich sind in vielen Grundschulen Schülergremien wie Klassenrat und  Kinderparlament, Streitschlichterkonzepte und die gemeinsame Erarbeitung von Regeln. Das genügt aber nicht. Kinder müssen auch ihre individuellen Lernwege mitbestimmen können. Ihnen müssen Lernschritte transparent und Ziele verständlich gemacht werden. Partizipation und demokratisches Lernen verändern das Leistungskonzept der Schule.

Solch ein Konzept ist anspruchsvoll und fordert eine pädagogische Leistungskultur, die Lernfreude und Leistungszuversicht zu entwickeln hilft, die die Rückmeldungen der Kinder zu ihren Lernprozessen ernst nimmt und die Eltern einbezieht.

(…)

Happy birthday! Die Grundschule feiert heute ihren 100. Geburtstag – eine erfolgreiche Institution mit einem großen Problem

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