STUTTGART. Nach der harschen Kritik des Philologenverbands Baden-Württemberg an den Gemeinschaftsschulen im Land hat Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) die neue Schulart verteidigt – und den Verband abgewatscht. «Das sind unzufriedene Gymnasiallehrer, die lieber am Gymnasium wären und jetzt da ein bisschen rumkritisieren», sagte er. Während der Philologenverband bei seiner Kritik nachlegte, hat der Verein für Gemeinschaftsschulen Statements von Gymnasiallehrern veröffentlicht, die gerne an Gemeinschaftsschulen arbeiten.
Mit einer vollen Breitseite war der Philologenverband Baden-Württemberg in der vergangenen Woche auf die Gemeinschaftsschule in dem Bundesland losgegangen (News4teachers berichtete). Die darin üblichen Berichtszeugnisse seien unverständlich, Kinder mit Gymnasialempfehlung würden nicht ausreichend gefördert, es herrschten massive Disziplinprobleme, Ergebnisse von Lernstandserhebungen würden geschönt – und: Gymnasiallehrer würden in den Kollegien von Gemeinschaftsschulen gemobbt. Um seine Kritik zu untermauern, hatte der Verband anonymisierte Statements von Lehrern veröffentlicht, die die Arbeit an Gemeinschaftsschulen kritisieren.
Kretschmann: In jeder Schulart gibt es unzufriedene Lehrer
Bei den Äußerungen handle es sich schlichtweg um Einzelmeinungen, befand Ministerpräsident Kretschmann nun. «Die Urteile des Philologenverbands haben mit einer systematischen Untersuchung aus meiner Kenntnis erstmal überhaupt gar nichts zu tun», sagte Kretschmann am Dienstag in Stuttgart. «Das kann man so machen, aber hilfreich ist es gewiss nicht.» In jeder Schulart werde man unzufriedene Lehrer finden. Die grün-rote Vorgängerregierung unter Kretschmann hatte die Gemeinschaftsschule 2012 in Baden-Württemberg neu eingeführt.
Kultusministerin Susanne Eisenmann, die als Spitzenkandidatin der CDU gegen Kretschmann antritt, hatte als Reaktion auf den öffentlichen Brief des Philologenverbandes zu einem Treffen eingeladen – mit den Gymnasiallehrern. “Gerne möchte ich mich dazu mit dem Philologenverband und betroffenen Lehrkräften noch vertieft austauschen”, erklärte sie. Die Sprecherin des Elternnetzwerkes im Verein für Gemeinschaftsschulen, Ulrike Felger, zeigte sich über das Gesprächsangebot irritiert. „Es wäre verantwortungsvoller, sich zunächst mit VertrerInnen der völlig zu Unrecht beschuldigten Schulart auszutauschen“, meinte sie.
Philologen-Chef: Schwächere Schüler überfordert
Wie der Landesvorsitzende des Philologenverbands Ralf Scholl in einem Interview mit dem Deutschlandfunk erklärte, sei das Gespräch mit Eisenmann für den 16. März geplant. Scholl bekräftigte die Kritik der Philologen. “Zumindest an einem Großteil der Gemeinschaftsschulen funktioniert das bisher bestehende pädagogische Konzept gar nicht. Insbesondere geht es eben auf Kosten der schwächeren Schüler”, sagte er.
Jeder Lehrer wisse aus Erfahrung, dass schwächere Schüler enger geführt werden müssten, “sodass sie erfolgreich lernen, an der Sache dranzubleiben”. In den Gemeinschaftsschulen aber werde “das Prinzip des selbstorganisierten Lernens” praktiziert. Scholl meinte zudem: “Und wenn man eben wie die jetzigen Gemeinschaftsschulen solchen Wert darauf legt, Verbalbeurteilungen zu geben, dann müssen diese Verbalbeurteilungen aber mindestens parallel durch Noten begleitet werden.”
In Gemeinschaftsschulen wird auf drei Niveaustufen unterrichtet, die zum Hauptschulabschluss, zum Realschulabschluss oder zum Abitur führen können. Dabei gibt es Unterricht in traditioneller Form, eigenständiges Lernen und Lernen in Gruppen. Die Schüler bekommen erst einmal keine Zeugnisse, sondern Lernentwicklungsberichte, um zu sehen, wo sie stehen.
“Wildes Eindreschen auf die Schulform”
„Wir stellen mit Verwunderung fest, dass der Philologenverband als Vertretung vieler GymnasiallehrerInnen im Land jegliche Beißhemmungen gegenüber KollegInnen anderer Schularten verliert“, sagt Matthias-Wagner-Uhl, Vorsitzender des Vereins für Gemeinschaftsschulen in Baden-Württemberg und selbst Leiter einer Gemeinschaftsschule. Er sprach von einem “wilden Eindreschen auf die Schulform” und einem “kruden Mix aus Unterstellungen und Beschuldigungen” seitens der Philologen.
Dass sich der Verband an der Gemeinschaftsschule abarbeite, hat aus seiner Sicht einen guten Grund. Wagner-Uhl: „Unsere Schulen zeigen, wie zeitgemäße Entwicklung von Bildungsangeboten orientiert an internationalen Standards in der Praxis funktioniert.“ In Kombination mit der Genehmigung weiterer Oberstufenstandorte sehe sich die Gymnasial-Lobby seit Jahren erstmals im Zugzwang, sich mit ihrer Weiterentwicklung zu beschäftigen. “Ein schwieriges Unterfangen für eine Schulart, die sich der gesellschaftlichen Dynamik konsequent durch Abgrenzung und Ausgrenzung verweigert”, meint der Schulleiter. “Zudem halten die Gemeinschaftsschulen ein attraktives Angebot zum G9-Abitur bereit, um das sie viele Allgemeinbildende Gymnasien beneiden.” News4teachers
Nachdem der Philologenverband anonyme Statements von unzufriedenen Gymnasiallehrern an Gemeinschaftsschulen veröffentlicht hat (News4teachers berichtete), zog nun der Verein für Gemeinschaftsschulen nach – und veröffentlichte seinerseits Aussagen von Gymnasiallehrer, die sich überaus zufrieden über ihre Arbeit an Gemeinschaftsschulen äußern. Diese Aussagen sind auf der Homepage des Vereins namentlich gezeichnet. Einige Auszüge:
„Durch gezielte Zufälle bin ich Gymnasiallehrer*in an einer Gemeinschaftsschulschule geworden und bevor ich diesen Schritt gegangen bin, wusste ich nicht, was auf mich zukommen würde. Ich wusste aber, dass es ein anderes Unterrichten sein wird, als am Gymnasium. (…) Die junge Schulart bietet motivierten Lehrkräften unglaubliche Möglichkeiten Schule mitzugestalten, wenn sie sich darauf einlassen. Schule wird hier immer wieder neu gedacht, ausprobiert, evaluiert und wieder umgedacht. Das spricht für diese Schulart, denn sie ist ein dynamisches System, das sich ständig versucht zu verbessern, statt die Schüler*innen so anzupassen, dass sie in das System passen.”
„Die Schulform ‚Gemeinschaftsschule‘ war mir, ausgebildet am bayerischen Gymnasium, zu Beginn sehr fremd. Jedoch machten es mir Kollegen und Schüler sehr leicht, mich an dieser Schulform einzufinden. Gerade Kollegialität und Hilfsbereitschaft werden in unserem Kollegium gelebt. Dies war mir von meiner Erfahrung am Gymnasium eher fremd.”
„Ich bin vor sieben Jahre freiwillig von einem Gymnasium auf eine GMS gewechselt und würde es wieder tun. Hier kann ich arbeiten, wie ich es immer wollte. Im Team den Unterricht vorbereiten oder auch vorbereitet bekommen – das Rad nicht jeden Tag neu erfinden müssen. Unterrichtsmaterial benutzen, reflektieren und verfeinern. Durch die gesparte Zeit kann ich die Schüler*innen besser betreuen. Denn Bildung besteht aus Kompetenzvermittlung und Persönlichkeitsentwicklung. Wenn ich beides im Blick habe, kann ich alles Lehrer wirklich etwas verändern. Übrigens: Ich kenne gerade drei Kolleg*innen, die versuchen von einem Gymnasium auf unsere GMS zu wechseln.“
“Seit fünf Jahren arbeite ich als Gymnasiallehrerin an einer Gemeinschaftsschule und bin fest überzeugt von dem Konzept dieser Schulart. Dabei unterscheidet sich meine tägliche Arbeit (…) fundamental von der Arbeit an meinen vorhergehenden Gymnasien, denn hier steht das Kind im Mittelpunkt und nicht der reine ‘Stoff'”.
Hier gibt es noch mehr Statements von Gymnasiallehrern an Gemeinschaftsschulen.