BOCHUM. Für den Vorschlag, die Sommerferien zu verkürzen, hat Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble heftige Kritik einstecken müssen. Doch auch Experten wie die Bochumer Familienforscherin Birgit Leyendecker können einer Ferienverkürzung etwas abgewinnen.
Kinder bestimmter Altersstufen werden nach den neuesten Beschlüssen der Regierung vielleicht erst wieder im August in die Schule zurückkehren. Dann sind seit Beginn der Coronakrise fünf Monate vergangen. Im Gespräch mit der “Augsburger Allgemeinen” hatte Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble angeregt, die Schulferien in der Sommerzeit „etwas“ zu verkürzen. Ein solcher Schritt böte nach Schäubles Ansicht Schülern die Gelegenheit, den durch die Corona-Pandemie versäumten Unterrichtsstoff nachzuholen.
Nicht alle Kinder werden diese lange Zeit ohne Lerndefizite überstehen, sind sich auch Experten des wissenschaftlichen Beirats für Familienangelegenheiten des Bundesfamilienministeriums sicher.
Beiratsmitglied Birgit Leyendecker von der Ruhr-Universität Bochum etwa regt an, über eine Neugestaltung der Sommerferien nachzudenken. So könne man die üblichen sechs Wochen beispielsweise reduzieren, damit die Kinder und Jugendlichen ausreichend Zeit haben, um mithilfe von Unterstützungsangeboten eventuell entstandene Lerndefizite aufzuholen. Für Familien könnten so Handlungsspielräume geschaffen werden.
“Die Pandemie verstärkt sehr wahrscheinlich bestehende soziale Ungleichheiten in Deutschland und belastet Familien höchst unterschiedlich. Darum brauchen Kinder und Jugendliche in diesem Sommer vielfältige Angebote, damit sie gut in das neue Schuljahr starten können. Dies wäre ein notwendiger Beitrag nicht nur zur Bildungsgerechtigkeit, sondern auch zur Familiengerechtigkeit”, erklärt Leyendecker. Eine Diskussion zur kreativen Nutzung und Umgestaltung des Sommers 2020 solle deshalb kein Tabu sein.
Die Coronakrise habe somit bereits jetzt das Potenzial, sozial bedingte Unterschiede weiter zu verschärfen und die Zukunftschancen von Kindern und Jugendlichen ungleich zu schwächen. Denn es sei nach den sogenannten Coronaferien die Verschärfung eines Effekts zu erwarten, der aus Bildungsforschung und Schulpraxis seit Langem bekannt ist: Die Bildungsschere zeigt sich nach den Sommerferien besonders drastisch.
Während Schüler aus Haushalten mit vergleichsweise wenig Ressourcen viel Zeit benötigen, um das vorher Gelernte zu aktivieren, können Kinder und Jugendliche aus ressourcenstarken Haushalten über die Ferien ihren Wissensstand halten oder sogar noch ausbauen. “Normalerweise reduzieren sich diese Unterschiede im Laufe des Schuljahres. Die unterschiedlichen Kapazitäten in den Familien werden jedoch dazu führen, dass Unterschiede durch die durch Corona hervorgerufene Zwangspause noch weiter verstärkt werden”, so Leyendecker. Die Familienforscherin empfiehlt daher: “Wir brauchen im Sommer und bis in den Herbst hinein ein breit angelegtes Bildungs- und Begleitungsangebot von guter Qualität und dafür eine breit angelegte gesellschaftliche Solidarität.”
Erholung ja, aber nicht unbedingt sechs Wochen lang
Alle Kinder und Jugendliche brauchen Zeit mit ihrer Familie, für Erholung und selbstbestimmte Aktivitäten, aber in diesem Jahr müssten es nach Meinung des Expertengremiums vielleicht nicht sechs Wochen sein. Viele Kinder und Jugendliche seien nach der abrupt eingeleiteten Phase des Homeschoolings angewiesen auf gezielte Lernangebote, auf Unterstützung in einzelnen Fächern, auf kreatives Üben und Wiederholen.
Auch Eltern seien in diesen Ferien auf andere Unterstützung angewiesen als sonst: So hätten viele von ihnen nicht mehr genügend Urlaubstage für gemeinsame freie Zeit. Mütter und Väter benötigten darüber hinaus eine Entlastung von der Sorge, dass ihr Kind im neuen Schuljahr den Anschluss nicht finden könnte, weil zu viel versäumt wurde. (zab, pm)
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