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Wassmuth: „Die Verantwortlichen tun so, als wäre nichts gewesen“ – Bundeselternrat fordert kleinere Lerngruppen (nicht nur wegen Corona)

BERLIN. Stephan Wassmuth, Vorsitzender des Bundeselternrats, plädiert im Interview mit News4teachers für einen Wechsel aus Präsenz- und Distanzunterricht. Zudem äußert er die Sorge, dass Bildung derzeit zum Glücksspiel wird – abhängig vom Standort, der digitalen Ausstattung und dem Engagement einzelner Lehrkräfte. Seine Forderung an die Politik: Die Probleme, die durch Corona offengelegt wurden, dürfen nun nicht einfach wieder ignoriert werden. Schluss mit dem Weiter-so!

Stephan Wassmuth spricht vom „Brennglas Corona“. Er pocht darauf, dass bestehende Probleme im Bildungssystem nun endlich angegangen werden. Foto: Bundeselternrat

News4teachers: Sie haben in einem Interview gesagt, es sei völlig blauäugig, jetzt so zu tun, als sei Corona einfach vorbei. Man könnte meinen, es sollte allen Beteiligten klar sein, dass die Pandemie noch nicht überstanden ist. Warum war es Ihnen dennoch wichtig, das noch einmal hervorzuheben?

Stephan Wassmuth: Die Corona-Krise hat ja wie ein Brennglas gewirkt und ganz viele Probleme, die schon seit langem bekannt sind, noch einmal deutlich hervorgehoben und vergrößert. Sei es beim Thema Schulsanierungen, beim Lehrermangel oder Digitalisierung. Wir als Bundeselternrat haben also die Zeit seit März genutzt, um mit Eltern, Schülerinnen und Schülern, Lehrkräften, Schulleitungen und der Politik zu sprechen. Dabei ging es auch darum, Bildung beziehungsweise das Bildungssystem langfristig zu verbessern. Was uns jetzt ärgert, ist einfach, dass diese ganzen Gespräche, die wir geführt haben, diese ganzen Überlegungen, die wir hatten, wieder komplett ignoriert werden und die Verantwortlichen so tun, als wäre nichts gewesen. Als wären alle Probleme beseitigt. Deshalb halte ich das jetzige Vorgehen, die Schulen nach den Sommerferien einfach wieder für alle zu öffnen, für sehr blauäugig.

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Eltern wünschen sich Präsenzunterricht in der Schule  – aber…

News4teachers: Wenn Sie hätten mitentscheiden könnte, was hätten Sie nach den Sommerferien ganz konkret anders gemacht?

Wassmuth: Wir waren ja vor den Sommerferien auf einem guten Weg, indem kleinere Lerngruppen gebildet wurden und die Schüler abwechselnd in die Schule gekommen sind – verbunden mit dem Fernunterricht. Ich habe von vielen Seiten die Rückmeldung bekommen, dass auf diese Weise der Unterrichtsstoff viel effektiver nachgeholt werden konnte. Natürlich bräuchte man für kleinere Lerngruppen auch mehr Personal, das es nicht gibt. Aber auch der Vorschlag, Studierende mit ins Boot zu holen oder die Unterstützung Dritter zu nutzen, ist nicht aufgenommen worden. Stattdessen soll alles einfach möglichst normal weitergehen. Es wird nicht mal über die Frage gesprochen, was denn passiert, wenn einzelne Schulen doch wieder in den Lockdown müssen. Das ist frustrierend.

News4teachers: Aber ist es nicht auch ein positiver Schritt für Familien, für die die Schulschließungen ja auch mit Belastungen verbunden waren, dass die Kinder nun wieder zurück an die Schulen können?

Wassmuth: Klar wünschen wir Eltern uns auch, dass wir wieder qualifizierten Präsenzunterricht hinbekommen. Das ist ja auch für die Psyche der Kinder ganz wichtig, dass sie wieder vor Ort angebunden sind und persönlicher Kontakt zu den Lehrkräften besteht. Aber ich denke, den meisten ist auch bewusst, dass es unter den gegebenen Umständen so nicht klappen kann. Ich war Teil der 22-köpfigen Kommission der Friedrich-Ebert-Stiftung, die verschiedene Empfehlungen für das Schuljahr 2020/2021 erarbeitet hat. (News4teachers hat ausführlich über das Papier berichtet – hier geht es zu dem Beitrag.) Und wir haben gesagt, es sind drei Szenarien denkbar: Das Szenario A ist Präsenzunterricht als Regelfall, Szenario B wäre ein Mix aus Präsenz- und Fernunterricht und Fernunterricht als Regelfall wäre Szenario C. Und ich weiß, dass das Szenario B von, der Präsenzunterricht verbunden mit qualifiziertem Fernunterricht, für viele der favorisierte Weg ist. Denn der Virus ist ja nicht weg.

“Es muss wirklichen Unterricht geben, mit dem wir Eltern nichts zu tun haben”

News4teachers: Was verstehen Sie unter qualifiziertem Fernunterricht?

Wassmuth: Fernunterricht meint nicht Homeschooling. Es ist nicht so gedacht, dass die Kinder zu Hause Hausaufgaben erledigen, dann aber nur einmal wöchentlich oder gar keine Rückmeldung bekommen. Es muss wirklichen Unterricht geben, mit dem wir Eltern nichts zu tun haben. Leider scheitert es dabei häufig an den technischen und infrastrukturellen Möglichkeiten und da hätte man sich in den vergangenen Monaten natürlich kümmern können. Nein, nicht können: müssen!

News4teachers: Die Schulschließungen haben auf schmerzliche Weise deutlich gemacht, dass die Schulen digital noch lange nicht auf dem Stand sind, auf dem sie sein sollten. Was sind Ihrer Meinung nach die derzeit größten Baustellen?

Wassmuth: Es scheitert vor allem daran, dass wir nicht überall Internet haben und zusätzlich digitale Endgeräte fehlen. Diese Probleme hätte die Politik angehen müssen. Hinzukommt, dass jedes Bundesland gerade damit beschäftigt ist, eine eigene Cloud-Lösung auf die Beine zu stellen. Dabei gibt es doch auf Bundesebene schon seit Jahren die HPI-Schulcloud. Warum wird die nicht ausgebaut und genutzt? Oder wenn ich auf den Digitalpakt schaue: Darin ist festgehalten, dass der Support der angeschafften Technik über die jeweiligen Schulträger stattfinden soll. Wenn ich jetzt auf die Stadt Kassel schaue, werden vielleicht zwei, drei Leute eingestellt, die sich um die Technik kümmern – für hundert Schulen. Da kann man sich ausrechnen, wie dieser Support laufen wird. Man kann eigentlich jetzt schon absehen, dass dabei viele Kinder auf der Strecke bleiben – und zwar die, die eh schon die schwierigeren Startbedingungen hatten. Warum gibt es dafür keine einheitlichen, sinnvollen Lösungen?

Was ist mit den Aerosolen in den Klassenräumen?

News4teachers: Die Kultusministerkonferenz hat ja einen gemeinsamen „Rahmen für aktualisierte Infektionsschutz- und Hygienemaßnahmen“ beschlossen. Was halten Sie von den Vorgaben darin?

Wassmuth: Dieses Rahmenpapier wird aus meiner Sicht schon dadurch ausgehebelt, dass darin steht „soweit das Infektionsgeschehen es zulässt“. Dieser Halbsatz heißt so viel wie: „Macht mal, was ihr wollt.“ Und es gibt auch noch viele ungeklärte Fragen: Wie verhält es sich mit den Aerosolen und dem Lüften? Was machen die Schulen, die gar keine Fenster in den Klassenzimmern haben? Werden spezielle Filteranlagen eingebaut oder sonstige bauliche Veränderungen vorgenommen?

Es ist ganz klar, dass regionale Unterschiede beachtet werden, da stehen wir als Bundeselternrat auch hinter. Nichtsdestotrotz müsste es gerade bei so wegweisenden Entscheidungen einen roten Faden von Bundesseite aus geben, der nach unten durchgegeben wird. Es kann nicht sein, dass letztendlich alles dem jeweiligen Schulträger überlassen wird. Ich meine, wir haben starke Schulträger und Kommunen, die finanziell gut ausgestattet sind und wir haben finanziell eher schwach ausgestattete Schulträger. Das kann also nicht die Antwort auf eine weltweite Pandemie sein. Bildung darf jetzt nicht zum Glücksspiel werden, abhängig vom Wohnort!

News4teachers: Vor den Sommerferien hatten Sie gefordert, dass man Lehrkräfte in den Ferien verpflichtend fortbilden müsste. Aber können Sie nicht auch die Lehrkräfte verstehen, hinter denen kräftezehrende Wochen lagen und die auch Zeit zum Durchatmen brauchten?

Wassmuth: Natürlich, wir als Bundeselternrat haben auch nie gesagt, dass wir den Lehrerinnen und Lehrern ihre Ferien nicht gönnen. Aber auch hier muss man realistisch sein: Sechs Wochen Sommerferien heißt ja nicht, dass Lehrer sechs Wochen frei haben. Sie nutzen die Zeit ja auch für Vor- und Nachbereitung und da hätte man schon Schulungsangebote machen können, damit alle Lehrkräfte in der Lage sind, im Notfall Fernunterricht anzubieten. Es ging uns darum, dass zumindest alle die pädagogischen und technischen Fähigkeiten erwerben, dass eine Schulschließung sinnvoll aufgefangen werden kann.

“Gar kein Feedback für Schüler ist schlimmer als schlechtes Feedback”

News4teachers: Sie haben selbst noch schulpflichtige Kinder. Wie haben Sie die Monate der Schulschließungen erlebt?

Wassmuth: Wirklich ganz unterschiedlich. Mein einer Sohn hat zum Beispiel Arbeiten einreichen müssen, für die er bis heute keine Rückmeldung bekommen hat. Und gar kein Feedback ist schlimmer als schlechtes Feedback. Bei negativem Feedback hätte er wenigstens gewusst, es interessiert jemanden. Es kann aber auch ganz anders funktionieren, wie ich bei meiner Tochter gesehen habe. Man muss dazu sagen, dass meine Tochter auf eine Privatschule geht, was mit ihrer Ausbildung zusammenhängt. Aber diese Schule ist schon seit Jahren digital aufgestellt. Für die Lehrerinnen und Lehrer war es also ganz einfach zu sagen: „Wir machen jetzt den qualifizierten Fernunterricht weiter, den wir auch vorher schon als freiwilliges Angebot im Programm hatten.“

Es gibt viele positive Beispiele in Deutschland von Lehrern, die Youtube-Kanäle eingerichtet haben, von Lehrerinnen, die ihre Schüler zu Hause besucht haben, oder von Klassen, in denen Videokonferenzen durchgeführt wurden. Das Problem ist, dass diese engagierten Lehrkräfte jetzt quasi gesagt bekommen: „Das war ja alles schön und gut, aber das kloppen wir jetzt trotzdem alles wieder in die Tonne und machen weiter, wo wir vor Corona aufgehört haben.“ Auch das ist total demotivierend für Lehrer und Schüler und meiner Meinung nach der falsche Weg. Laura Millmann / Agentur für Bildungsjournalismus

Der Beitrag wird auch auf der Facebook-Seite von News4teachers diskutiert.

Elternverbände fordern Unterricht mit Abstand, in kleinen Lerngruppen und ohne Masken

 

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