BERLIN. Verantwortliche Politiker von den Kultusministern der Länder bis hinauf zu Vertretern der Bundesregierung werden nicht müde zu beteuern, dass Kitas und Schulen nichts mit den steigenden Corona-Zahlen zu tun haben. Das Robert-Koch-Institut lässt in einem neuen Strategiepapier zur Pandemie allerdings jetzt die Katze aus dem Sack: „Bildungseinrichtungen haben eine Rolle im Infektionsgeschehen“, so heißt es darin. Um Schließungen zu verhindern, werden Schutzmaßnahmen vorgeschlagen – die die meisten Länder aber nicht einhalten.
„Die Schulen sind nicht Treiber der Pandemie“, so behauptete KMK-Präsidentin Stefanie Hubig (SPD), Bildungsministerin von Rheinland-Pfalz, noch Ende vergangener Woche. Die Erfahrungen der vergangenen Wochen hätten gezeigt, dass an den Schulen des Landes kein unkontrolliertes Infektionsgeschehen festzustellen sei und Schulen keine Hotspots seien, befand auch die nordrhein-westfälische Schulministerin Yvonne Gebauer. „Ganz im Gegenteil: Die strengen Hygiene- und Infektionsschutzmaßnahmen werden eingehalten und wirken.“ Mit der gleichen Botschaft wandten sich Bundesfamilienministerin Franziska Giffey (SPD) und Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) am vergangenen Freitag an die Öffentlichkeit: „Schulen und Kitas sind nicht Treiber der Pandemie“ (Giffey). „Es läuft sehr gut in den Kitas” (Spahn).
Wirken die Kitas und Schulen als Brandbeschleuniger im Infektionsgeschehen?
Neben den Ministern saß als Vertreter des Robert-Koch-Instituts Prof. Dr. Walter Haas mit in der Pressekonferenz, zwar ein anerkannter Wissenschaftler für respiratorisch übertragbare Erkrankungen und RKI-Fachgruppenleiter – aber kein Angehöriger der Führungsebene der Bundesbehörde. Die ließ sich merkwürdigerweise nicht blicken.
Haas war um seine Aufgabe auch nicht zu beneiden: Er durfte den Politikern öffentlich nicht widersprechen, musste aber doch bei der Wahrheit bleiben. So kam es zu einem etwas gewundenen Statement, das nicht so recht zum demonstrativen Optimismus von Giffey und Spahn passen wollte. Kinder trügen „eher weniger“ zur Übertragung bei, erklärte Haas. Das Risiko von Corona-Erkrankungen und Übertragungen steige in der Kindheit mit dem Alter und gleiche sich zwischen 13 und 15 Jahren dem von Erwachsenen an. Mit steigenden Infektionszahlen würden wohl auch mehr Infektionen in die Einrichtungen hineingetragen. „Das folgt der Situation in der Bevölkerung, aber es ist eben nicht ein Treiber, der dem vorausgeht“, sagte er in Berlin.
Kein Treiber, der vorausgeht – aber womöglich doch ein Brandbeschleuniger, der das Geschehen maßgeblich bestimmen kann? In einem Strategiepapier lässt das RKI jetzt die Katze aus dem Sack: „Die Evidenz zu genauer Auswirkung von Schulen und Kitas auf die Pandemie ist heterogen – zeigt aber klar auf, dass Bildungseinrichtungen einer der Orte sind, die eine Rolle im Infektionsgeschehen haben“, so heißt es darin.
Das RKI bekennt sich zum Ziel, die Kitas und Schulen offen zu halten – aber…
In dem Papier bekennt sich das RKI zwar zum Ziel, Kitas und Schulen geöffnet zu halten. „Bildungseinrichtungen wie Schulen und Kitas sind ein wesentlicher Teil des öffentlichen Lebens“, so heißt es darin. Sie seien entscheidend für die Entwicklung, Bildung und Sozialisierung von Kindern und Jugendlichen sowie dafür, dass Eltern ihren beruflichen Tätigkeiten nachgehen können. „Es ist wichtig, diese Einrichtungen durch Einhalten von Hygienekonzepten weiter offen zu halten“, erklärt die Behörde. Aber: „Hierfür sind organisatorische Vorbereitungen und Maßnahmen in enger und Sektoren-übergreifender Zusammenarbeit aller Akteure notwendig, um den Eintrag von Infektionen möglichst zu verhindern und, falls es doch dazu kommt, diese frühzeitig zu erkennen. Nur so kann sichergestellt werden, dass die Anzahl der Betroffenen klein gehalten und eine Ausbreitung ohne die Schließung der Einrichtungen verhindert werden kann.“
Welche Maßnahmen das RKI für notwendig hält, hat die Bundesbehörde in ihren aktuellen Empfehlungen dargelegt – die allerdings finden derzeit in den meisten Bundesländern keine Beachtung. Grundsätzlich, so heißt es, gelten „die infektionspräventiven Grundprinzipien und Empfehlungen (z. B. AHA+A+L Regeln sowie Kontaktpersonenmanagement inklusive Isolierung und Quarantäne) auch im Schulsetting.“ Die Einhaltung der AHA Regeln – also Abstand, Hygiene und Alltagsmaske – wird auch im Unterricht empfohlen. (Das zusätzliche A steht für die App, das L für Lüften.) Wohlwissend, dass Abstand im Regelunterricht, auf den die Kultusminister pochen, nicht möglich ist, hat das RKI einen Stufenplan vorgelegt, der in jedem Fall gelten soll. Darin heißt es:
Bei einer Inzidenz von mehr als 35 Fällen binnen sieben Tagen auf 100.000 Einwohner innerhalb einer kreisfreien Stadt oder innerhalb eines Landkreises sollen…
- Schulaktivitäten mit potenziell erhöhter Infektionsgefährdung (Chor, Bläserorchester, Kontaktsportarten) weitgehend unterbleiben,
- Maskenpflicht auch im Unterricht der weiterführenden Schulen gelten,
- eine Verkleinerung der Klassen sowie Schulschließungen mit Distanzunterricht zumindest „optional“ geprüft werden.
Bei einer Inzidenz von mehr als 50 Fällen sollen…
- Masken im Unterricht aller Jahrgangsstufen getragen werden,
- die Klassen (durch Teilung oder Wechselunterricht) geteilt werden, so dass Mindestabstand von 1,5 Metern eingehalten werden kann,
- Schulschließungen geprüft werden.
Städte und Landkreise in Deutschland reißen die Grenzwerte gerade reihenweise. In Hamburg beispielsweise stieg der Inzidenzwert aktuell über die kritische Marke von 50, Stuttgart liegt bei mehr als 80 und Frankfurt/Main sogar bei über 100. Der Unterricht läuft dort trotzdem weiter in voller Klassenstärke; lediglich eine Maskenpflicht im Unterricht der weiterführenden Schulen wurde erlassen. Dass das RKI „Ausbrüche in Schulen nach Wiedereröffnung der Bildungseinrichtungen in zunehmendem Ausmaß“ beobachtet, hatte die Bundesbehörde in seinen Empfehlungen bereits dargelegt.
Schulbehörde: “Keine Hinweise auf ein nennenswertes Infektionsgeschehen an Schulen”
Wie unglaubwürdig die Informationspolitik der Kultusminister in dieser Lage zunehmend wird, zeigt das Beispiel Hamburg. Der Sprecher der Hamburger Schulbehörde erklärte gestern auf Anfrage von tagesschau.de, man habe keine Hinweise auf ein nennenswertes Infektionsgeschehen an Schulen. Infektionen fänden in der Freizeit statt, nicht in der Schule. Daher sehe man keine Veranlassung für weitergehende Maßnahmen. Allerdings schloss man diese explizit nicht aus, sollten die Zahlen weiter stark steigen.
Was dem Sprecher offenbar entfallen war: Sein Chef, Bildungssenator Ties Rabe (SPD) – immerhin Wortführer der SPD-geführten Kultusministerien in Deutschland – hatte vor den Herbstferien unter dem Druck der Öffentlichkeit selbst Zahlen zum Infektionsgeschehen an den Hamburger Schulen herausgegeben. Danach wurden in der Hansestadt (Stand: 29 September) seit Schuljahresbeginn im August aus 149 Schulen 355 mit Covid-19 infizierte Schülerinnen, Schüler und Schulbeschäftigte gemeldet.
Drei Ausbrüche an Schulen, bei denen sich Schüler und Lehrer offensichtlich in der Schule angesteckt haben, wurden in diesem Zeitraum von den Gesundheitsbehörden im Stadtgebiet gezählt – darunter der bislang größte in Deutschland an einer Schule registrierte Ausbruch in Hamburg-Winterhude mit offiziell 36 infizierten Schülern und Lehrern. News4teachers
- Hier geht es zum Strategiepapier des Robert-Koch-Instituts.
- Hier geht es zu den Empfehlungen des Robert-Koch-Instituts für den Schulbetrieb.
