WIESBADEN. Steigende Infektionszahlen – damit einhergehend: immer mehr Quarantäne-Betroffene – führen zu wachsender Unruhe an den Schulen. Wer aus der Schulgemeinschaft muss denn überhaupt in Quarantäne gehen, wenn ein Lehrer oder Schüler positiv auf das Coronavirus getestet wird? Diese Frage wird von den Gesundheitsämtern unterschiedlich beantwortet. Ein Trend ist allerdings erkennbar, wie das Beispiel Hessen zeigt: Offenbar werden immer öfter nur Mitschüler in Quarantäne geschickt, die direkt neben einem Infizierten gesessen haben. Den Empfehlungen des Robert-Koch-Instituts entspricht das nicht – auch wenn anderes behauptet wird. Das Infektionsgeschehen an Schulen rückt dadurch aber aus der öffentlichen Wahrnehmung.
Mit steigenden Infektionszahlen wächst die tägliche Quote von Lehrern und Schülern in Corona-Quarantäne – auch in Hessen. Zuletzt mussten rund drei Prozent der Schüler und knapp vier Prozent der Lehrer wegen behördlicher Anordnungen zu Hause bleiben (Stand: 4. November). Beide Werte hätten noch bis zu den Herbstferien dauerhaft unter einem Prozent gelegen, räumte ein Sprecher des Kultusministeriums in Wiesbaden auf Anfrage ein, betonte jedeoch: Sie seien erst nach dem starken Anstieg der Infektionszahlen in ganz Deutschland angewachsen. Statt diese Entwicklung aber zum Anlass zu nehmen, den Infektionsschutz an Schulen zu verstärken, wird jetzt offenbar einfach nur seltener Quarantäne verhängt. Dadurch wird das Infektionsgeschehen unter Schülern und Lehrern weniger augenfällig.
Wer alles nach einem positiven Test in der Schulgemeinschaft in Quarantäne muss, das entscheiden die Kommunen vor Ort. «Eine Übersicht der Maßnahmen durch die Gesundheitsämter haben wir nicht», sagte der Ministeriumssprecher. In der Regel werde für einzelne Schüler, ganze Klassen oder Lerngruppen Quarantäne verhängt.
Maskenpflicht im Unterricht ändert an der Notwendigkeit der Quarantäne nichts – sagt das Robert-Koch-Institut
Dass eine ganze Schule geschlossen wird, ist dagegen eher selten: Zum Stichtag 3. November waren in Hessen insgesamt vier der 1795 Schulen wegen coronabedingter Quarantänevorgaben geschlossen. Insgesamt waren es nach Ministeriumsangaben seit Schuljahresbeginn 29. «Wir hoffen, dass durch die neue Maskenpflicht im Unterricht weniger Kinder in Quarantäne geschickt werden», erklärte der Sprecher. Die Quarantäne macht auch offenkundig an anderer Stelle Probleme: Immer mehr Lehrer fallen für den Präsenzunterricht aus. In der Regel gelinge es an den Schulen, die Lehrer zu ersetzen, die wegen Quarantäneauflagen nicht in den Klassen sein können, sagte der Sprecher. Werde die Personaldecke zu dünn, könne es jedoch sein, dass Schulen in einigen Fällen für ein paar Tage im Wechselbetrieb Unterricht erteilen – einer Mischung zwischen Präsenz und Lernen von zu Hause. Aber das will die Landesregierung ja unbedingt verhindern.
In Frankfurt gehe das Gesundheitsamt sehr spezifisch vor, sagte eine Sprecherin der Stadt. «Es wird immer abgefragt, wer neben dem betroffenen Schulkind gesessen hat, wer Spielkamerad oder Spielkameradin ist oder wer sonst irgendwie näheren Kontakt gehabt hat.» Nur diese Kinder müssten in Quarantäne. «Es kommt allenfalls im Einzelfall vor, dass eine ganze Klasse unter Quarantäne genommen werden muss», erklärte die Sprecherin.
Dazu muss man wissen: Leiter des Frankfurter Gesundheitsamts ist Prof. René Gottschalk, ein Mediziner, der Corona-Schutzmaßnahmen immer wieder öffentlich als überzogen kritisiert. Anfang Oktober befand er: Jüngere Schüler seien keine Infektionsquelle, sie steckten Erwachsene nicht an – eher umgekehrt. «Insgesamt lässt sich in Bezug auf Ansteckungen innerhalb von Schulen weiterhin sagen, dass von Schulen und Kitas, mit Ausnahme der Berufsfachschulen, kein hohes Infektionsrisiko ausgeht», sagt auch nun die Sprecherin. «Dies zeigen auch die an den Schulen vorgenommenen Abstrichaktionen, bei denen die Raten der positiv Getesteten sehr gering ausfallen.»
Warum dann trotzdem an Frankfurter Grundschulen bei auftretenden Fällen zusätzlich eine Maskenpflicht im Unterricht angeordnet wird? Mit der ausgeweiteten Maskenpflicht im Unterricht erhöhe sich der Anteil der Fälle, bei denen aufgrund des geringen Infektionsrisikos keine Quarantänemaßnahmen ergriffen werden müssen, sagt die Sprecherin der Stadt.
Wegen “der verstärkten Hygienemaßnahmen” in Schulen wird seltener Quarantäne verhängt, erklärt der Stadtsprecher
Eine Sprecherin der Stadt Wiesbaden stößt ins gleiche Horn: «Ob ganze Klassen oder nur einzelne Kinder in Quarantäne gehen müssen, hängt stark von den Gegebenheiten vor Ort ab.» Dabei orientiere sich das Gesundheitsamt an den Vorgaben des Robert Koch-Instituts, behauptet sie. «Sobald während des Unterrichts Mund-Nasen-Bedeckungen getragen werden, ist das Infektionsgeschehen meist deutlich besser abgrenzbar.» Dann müssten nur die Kinder im unmittelbaren Sitz-Umfeld des infizierten Kindes in Quarantäne.
Tatsächlich widerspricht das Vorgehen den Empfehlungen des Robert-Koch-Instituts. Das stellt in seinen aktualisierten Hinweisen zur „Kontaktpersonen-Nachverfolgung bei Infektionen durch SARS-CoV-2“ (Stand: 19. Oktober) fest: „Die Exposition einer Einzelperson zu im Raum hochkonzentriert schwebenden infektiösen Partikeln kann durch MNS/MNB kaum gemindert werden, da die Aerosole an der Maske vorbei eingeatmet werden.“ Schulklassen – und zwar ganze – gelten für das RKI bei Infektionsfällen ausdrücklich als „Kontaktpersonen der Kategorie I“, für die Quarantäne angeordnet werden sollte.
Nach Angaben des Landkreises Gießen ist in den vergangenen Monaten häufig Quarantäne für eine gesamte Klasse angeordnet worden, wenn ein Schüler, eine Schülerin oder eine Lehrkraft positiv getestet wurde und das Risiko eine Ansteckung bestand. Bei einer Schule sei es nach mehreren positiven Meldungen erforderlich gewesen, dass sich die gesamte Jahrgangsstufe 12 mit fast 230 Schülern für die Dauer der Kontaktpersonenermittlung vorsorglich in Quarantäne begab, sagte ein Sprecher. Zwischenzeitlich gebe vor allem wegen der verstärkten Hygienemaßnahmen an Schulen ein differenziertes Vorgehen. «Erfährt das Gesundheitsamt vom positiven Test eines Schülers, werden weiterhin die Kontakte im privaten Umfeld verfolgt. Von einer Quarantäne für die gesamte Klasse kann jedoch in der Regel abgesehen werden», erläuterte der Sprecher. Dies gelte vor allem für solche Jahrgangsstufen, bei denen in der Klasse Maskenpflicht bestehe.
Gesundheitsamts-Chef: „Jedem Fall genau nachzugehen, das gelingt nicht mehr.“ – Schulen fallen hinten runter
Oder steckt mehr dahinter? Bereits vor vier Wochen erklärte Frankfurts Gesundheitsamts-Chef Gottschalk, seine Mitarbeiten seien „sehr belastet“ durch die Verfolgung von Corona-Kontakten. „Noch schaffen wir’s, aber bei noch weiter steigenden Fallzahlen, und das ist natürlich zu erwarten in der Winterzeit, sind wir am Limit.“ Gottschalk forderte laut RTL eine Anpassung der Strategie: Nicht mehr jeder Kontakt soll zwingend nachverfolgt werden. Denn: „Die Eindämmung wird uns nicht mehr gelingen, dazu ist das Virus zu sehr verbreitet in der Bevölkerung.“ Mittlerweile – Anfang dieser Woche – erklärte Gottschalk im ZDF-Morgenmagazin: „Jedem Fall genau nachzugehen, das gelingt nicht mehr.“
Und weiter: „Man muss sich jetzt gezielt die Fälle raussuchen, wo es besondere Dinge gibt, die es zu beachten gibt, wo es sich lohnt, genau nachzufragen.“ Das könne, so Gottschalk, zum Beispiel ein Infizierter sein, der enge Kontakte mit Risikogruppen habe – anders als ein Ausbruch in einer jungen Familie. Heißt wohl: Die Schulen rücken aus dem Fokus. News4teachers / mit Material der dpa
Sozialministerium: Nur noch einzelne Schüler statt ganzer Klassen in Quarantäne
