DÜSSELDORF. In den letzten Wochen häufen sich Gerichtsurteile in Deutschland, denen zufolge Kinder auch dann in die Schule gehen müssen, wenn enge Angehörige zu Corona-Risikogruppen gehören (News4teachers berichtete). Eine Familie hat News4teachers jetzt ihre Geschichte geschildert. Die macht anschaulich, welche Schicksale hinter den Meldungen stecken – und welche Konsequenzen mit der von den Bundesländern verfolgten Politik des Präsenzunterrichts um jeden Preis verbunden sind.
Der dreijährige Jakob (Namen von der Redaktion geändert) hat bereits eine dicke Patientenakte. Der Junge kam mit einer schweren Sepsis zur Welt, lag nach der Geburt auf der Intensivstation. Sein Herz blieb mehrmals stehen und die Atmung setzte aus.
Eine klare Diagnose, was dem Jungen fehlt, haben die Ärzte bislang nicht stellen können. Die anstehenden Untersuchungen wurden durch die Pandemie verzögert. Die Krankenakte des dreijährigen Jungen listet auf:
- 5 Lungenentzündungen,
- 7 aktute Entzündungen der Bronchien,
- häufige Pseudo-Krupp-Anfälle
- unklare Herzproblematik (Herzrhythmusstörungen),
- jeder Infekt ist deutlich länger und schwerer im Verlauf,
- oft dehydriert er bei den Infekten, weil es ihm derart schlecht geht, dass er weder trinkt noch isst,
- vermehrte stationäre Behandlungen,
- Herzmuskelentzündung,
- Neurodermitis und eine Wundheilungsstörung.
Jakob hat drei ältere Geschwister, zwei davon – sieben und neun Jahre alt – sind in der Grundschule, eines – elf Jahre alt – besucht ein Gymnasium. Die Möglichkeit, dass eines der Kinder sich in der Schule mit dem Coronavirus infiziert und den kleinen Bruder ansteckt, versetzt die Familie seit Monaten in Angst und Schrecken. Eine Befreiung vom Präsenzunterricht, wie sie in Baden-Württemberg mit einem formlosen Schreiben der Eltern an die Schule möglich wäre, ist in Nordrhein-Westfalen, wo die Familie lebt, nicht vorgesehen.
Die Eltern sollen ihren dreijährigen Sohn innerhalb der Familie isolieren – wie soll das gehen?
Beim NRW-Schulministerium heißt es: „Sofern eine Schülerin oder ein Schüler mit einem Angehörigen – insbesondere Eltern, Großeltern oder Geschwister – in häuslicher Gemeinschaft lebt und bei diesem Angehörigen eine relevante Erkrankung, bei der eine Infektion mit SARS-Cov-2 ein besonders hohes gesundheitliches Risiko darstellt, besteht, sind vorrangig Maßnahmen der Infektionsprävention innerhalb der häuslichen Gemeinschaft zum Schutz dieser Angehörigen zu treffen.“ Wie soll aber ein Dreijähriger innerhalb der Familie isoliert werden? In ihrer Not hielten die Eltern die drei älteren Kinder wochenlang vom Schulbesuch fern – und unterrichteten sie zu Hause.
Das rief allerdings zunächst die Schulen, dann die Behörden auf den Plan. Bei einem Telefonat mit dem Gesundheitsamt bekam Frauke Schuster den Rat, sich die Angelegenheit nicht so zu Herzen zu nehmen. „Ihre anderen Kinder sind doch gesund. Gefahr zu sterben, besteht immer. So ist das Leben.“
Die Familie klagte gegen die Aufforderung des Gymnasiums, die älteste Tochter wieder in den Präsenzunterricht zu schicken, vor dem Verwaltungsgericht Aachen. Der Antrag, sie davon zu befreien, wird allerdings als „in der Sache unbegründet“ zurückgewiesen. „Eine Verletzung der staatlichen Schutzpflicht zum Schutze des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit aus Art. 2, Abs. 2, Satz 1 GG ist hier nicht zu erkennen“, so urteilt das Gericht.
Das Gericht meint: Schutzmaßnahmen in den Schulen entsprechen wissenschaftlichen Erkenntnissen – das ist aber falsch
Denn: „Die Verletzung einer Schutzpflicht liegt demnach nur vor, wenn Schutzvorkehrungen entweder überhaupt nicht getroffen sind, wenn die getroffenen Regelungen und Maßnahmen offensichtlich ungeeignet oder völlig unzulänglich sind, das gebotene Schutzziel zu erreichen oder wenn sie erheblich hinter dem Schutzziel zurückbleiben. Die Verfassung gebietet dabei keinen Schutz vor jeglicher Gesundheitsgefahr.“ Eine gewisses Infektionsrisiko mit dem neuartigen Coronavirus gehöre aber „derzeit für die Gesamtbevölkerung zum allgemeinen Lebensrisiko“.
„Im Rahmen der gebotenen summarischen Prüfung erscheinen die Regelungen und Maßnahmen nicht gänzlich ungeeignet oder völlig unzulänglich. Sie entsprechen den bisherigen wissenschaftlichen Erkenntnissen zur Ausbreitung des Virus.“ Die Richter verweisen auf die Maskenpflicht im Unterricht (die für die Geschwister in der Grundschule allerdings nicht gilt), auf die feste Sitzordnung in der Klasse (die nur der Nachverfolgung von Infektionsketten dient, nicht dem Infektionsschutz), und eine „regelmäßige Reinigung der Schulräume“. Außerdem sei es dem Kind unbenommen, eine FFP2-Maske zu tragen (die von der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin als problematisch für Kinder eingeschätzt wird).
Empfehlungen des Robert-Koch-Instituts gelten in Schulen nicht – anders als im Verwaltungsgericht
Dass die Empfehlungen des Robert-Koch-Instituts, der obersten deutschen Bundesbehörde für den Seuchenschutz, im Unterricht in nordrhein-westfälischen Schulen nicht eingehalten werden – anders übrigens als im Gebäude des Verwaltungsgerichts Aachen -, erwähnt die Richterin nicht. Die Atteste, die dem dreijährigen Sohn eine schwere Vorerkrankung bescheinigen, hält sie für nicht glaubhaft. Ein Amtsarzt habe nach Aktenlage bescheinigt, dass dem Kind kein erhöhtes Risiko drohe, bei einer Infektion mit dem Coronavirus schwer zu erkranken.
Die drei älteren Kinder gehen jetzt wieder zur Schule. Frauke Schuster ist mit ihrem Sohn Jakob aus dem Haus der Familie ausgezogen – sie leben nun auf unbestimmte Zeit bei Verwandten. „Die Feiertage werden wir uns wohl auch nicht sehen können, denn was bringen sechs Tage Quarantäne schon, wenn die ersten Symptome auch erst nach 10 Tagen auftreten können“, so berichtet die Mutter. Sie meint: „Unsere Kinder leiden. Es ist menschenunwürdig.“ News4teachers
Dieser Beitrag wurde mit Unterstützung der Leserinnen und Leser von News4teachers realisiert.
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