BERLIN. Vertreter von mehr als 20 Elternverbänden aus ganz Deutschland, darunter des Bundeselternrats und der mitgliederstarken Landeselternschaft der Gymnasien Nordrhein-Westfalen, haben sich in einem gemeinsamen Brief an Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) gewandt. Sie haben Angst davor, dass nach dem 14. Februar – bis dahin gilt der jüngste Bund-Länder-Beschluss – wieder ein Bundesland nach dem nächsten konzeptlos die Schulen weit öffnet. Die Elternvertreter appellieren an Merkel, für bundesweit geltende Schutzstandards im Unterricht zu sorgen. Und sie attestieren den Kultusministern „beratungsresistente Realitätsverdrängung“. Wir dokumentieren das Schreiben.
An
Frau Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel
Bundeskanzleramt
Willy-Brandt-Straße 1
10557 Berlin
zur Kenntnisnahme:
Frau KMK-Präsidentin Britta Ernst
Taubenstraße 10
10117 Berlin
Zum Thema Schule in Pandemiezeiten
27. Januar 2021
Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin Dr. Merkel,
wir wenden uns als Elternverbände der Bundesländer Baden-Württemberg, Bayern, Hamburg, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Saarland, Sachsen nebst weiteren Unterstützer*innen an Sie und möchten die Gelegenheit nutzen, Ihnen unsere Anerkennung für Ihr persönliches Engagement im Ringen um den „richtigen“ Weg in der Pandemiebekämpfung auszusprechen. Für uns stellt sich nach der Beschlusslage vom 19.01.2021 die Frage, wie es ab dem 15. Februar weitergeht.
Seit Monaten fordern wir – inzwischen geradezu verzweifelt – von den zuständigen Landesminister*innen die Erstellung stringenter Konzepte für den Schulbetrieb in Pandemiezeiten, welche die Schaffung einer basalen, infektionsschutzadäquaten Infrastruktur zur Sicherstellung von Präsenz-Unterricht und -Betreuung beinhalten. Leider müssen wir konstatieren, dass auch 11 Monate nach Beginn der Pandemie keine einheitlichen Standards zur Umsetzung hinreichenden Infektionsschutzes existieren – in keinem Bundesland.
“Wissenschaftlich und auch praktisch erwiesen ist, dass Infektionen in Schulen stattfinden”
Aus Sicht der Unterzeichnenden kann dahinstehen, ob Kinder „Treiber der Pandemie“ sind oder lediglich das allgemeine Infektionsgeschehen abbilden. Wissenschaftlich und auch praktisch erwiesen ist, dass Infektionen in Schulen stattfinden und Schulen (auch Grundschulen) somit einen Beitrag zum Infektionsgeschehen leisten. Diese Realität muss von den politisch Verantwortlichen endlich radikal akzeptiert werden. Vor dem Hintergrund der gesamtgesellschaftlichen Bedeutung von Schulen und den psychosozialen Folgen von Schulschließungen für Kinder und deren Familien ist es schlicht nicht hinnehmbar, dass immer noch keine dem wissenschaftlichen Erkenntnisstand entsprechenden Rahmenbedingungen konzipiert sind, geschweige denn tatsächlich umgesetzt werden.
Nach unserem Dafürhalten liegt dies neben nachhaltiger und beratungsresistenter Realitätsverdrängung vor allem an der mangelnden Bereitschaft die erforderlichen finanziellen Mittel zur Verfügung zu stellen. Dies ist mehr als fahrlässig, wenn man sich die weitreichenden Konsequenzen dieses Handelns bzw. Unterlassens vergegenwärtigt. Die Pandemie führt inzwischen zu einer deutlich wahrnehmbaren sozialen Spaltung der gesamten Gesellschaft, welche sich durch den Umgang mit den Schulen weiter verfestigen wird.
Bitte lassen Sie daher nicht zu, dass sich die wiederkehrende und als vermeintlich ausweglos dargestellte Dichotomie von „Schulen auf ohne hinreichenden Infektionsschutz“ und „Schulen zu“ fortsetzt. Dies ist angesichts des Umstands, dass eine Beschulung und Betreuung in Präsenz vor allem für junge Kinder und Kinder mit besonderem Förderbedarf essentiell ist, unabdingbar. Mit den an den Schulen bislang existierenden, unzureichenden Schutzvorkehrungen kann ein dauerhafter Schul- und Betreuungsbetrieb in Präsenz nicht sichergestellt werden. Da fest steht, dass die Pandemie unseren Alltag noch geraume Zeit prägen wird, Kinder in Ermangelung einer Impfmöglichkeit auf unabsehbare Zeit schutzlos bleiben und aufgrund der Mutationen eine erhöhte Infektionsdynamik droht, bedarf es hier grundlegender und nachhaltiger Veränderungen im Handeln.
“Wir appellieren eindringlich an Sie: Erklären Sie (auch) das Thema Schulen unverzüglich zur Chefsache!”
Die Unterzeichnenden dieses Schreibens sind ein Abbild der heterogenen Interessensgruppen und Perspektiven bezüglich des Themas Schule in der Pandemie. Allen gemeinsam ist aber das Ziel, das Recht von Kindern auf Bildung und Betreuung unter gleichzeitiger Berücksichtigung der diversen Bedürfnisse der Eltern in der Pandemie realisiert zu wissen. Deshalb fordern wir:
- Infektionsschutzadäquate einheitliche Rahmenbedingungen für Schul- und Betreuungsbetrieb in Präsenz mit konsequenter Umsetzung der RKI-Empfehlungen für Schulen gem. Positionspapier vom 12.10.2020 (Einhaltung der AHA+L-Regeln, technische Vorrichtungen wie mobile Luftfilter, Plexiglastrennwände, FFP-2-Masken u. ä., Testkonzepte etc.).
- Sofern das Infektionsgeschehen Präsenzbetrieb nicht zulässt: Distanzunterricht (mit Unterstützungsangeboten für Familien, für die Distanzunterricht keine Option darstellt) und Flexibilität für alternative Modelle vor Ort.
- Die explizite Anerkennung, dass auch das Schuljahr 2020/2021 kein „normales“ Schuljahr ist, mit der Konsequenz, dass bezüglich der zu erbringenden Leistungsnachweise (Testungen und Prüfungen) Anpassungen vorgenommen werden, um nachhaltig den auf allen Betroffenen lastenden Druck zu vermindern.
Wir appellieren eindringlich an Sie: Erklären Sie (auch) das Thema Schulen unverzüglich zur Chefsache!
- Anke Staar, Vorsitzende Landeselternkonferenz NRW
- Reiner Schladweiler, Vorsitzender Landeselternbeirat RLP und RegionalelternbeiratTrier
- Cindy-Patricia Heine, Vorsitzende Landeselternrat Niedersachsen
- Dr. Cornelia Pahnke, 1. Stellvertretende Vorsitzende Landeselternrat Niedersachsen
- Henrike Paede, Stellvertretende Vorsitzende Bayerischer Elternverband e.V.
- Michael Mittelstaedt, Vorsitzender Landeselternbeirat Baden-Württemberg
- Nadine Eichhorn, Stellvertretende Vorsitzende LandesElternRat Sachsen
- Stefan Kreis, Vorsitzender Gesamtlandeselternvertretung Saarland
- Marc Keynejad, Vorsitzender Elternkammer Hamburg
- Stephan Wassmuth, Delegierter, Bundeselternrat, Lohfelden
- Petra Mueller, Delegierte, Bundeselternrat, Pfalzfeld
- Thomas Brewig, Vorsitzender des Kreiselternrates Chemnitz
- Stadtelternrat Göttingen
- Tanja Speckenbach, Vorsitzende Landeselternschaft der Förderschulen mit dem Schwerpunkt geistige Entwicklung e.V.
- Romy Suhr, Vorsitzende die Inklusiven e.V.
- Erol Çelik, Elternnetzwerk NRW, Integration miteinander e.V.
- Klaus Amoneit, Landesvorsitzender Progressiver Eltern- und Erzieherverband NW – PEV
- Jutta Löchner, Vorstandsvorsitzende der Landeselternschaft der Gymnasien in NRW e.V.
- Prof. Franz-Josef Kahlen, Mitglied des Vorstands der Landeselternschaft der Gymnasien in NRW e.V.
- Bernd Kochanek, Vorsitzender Gemeinsam Leben, Gemeinsam Lernen e.V.
- Roland Schiefelbein, GGG-Verband für Schulen des gemeinsamen Lernens, NRW
- Nadine Candelaresi, sicherebildung.jetzt
- Eva-Maria Thoms, Vorsitzende mittendrin e.V
- Kinder- und JugendlichenpsychotherapeutInnen, Kompetenznetz Westfalen Lippe e.V.
- Annette Greiner, Uwe Sonneborn, Katrin Quappen, Landesverband Schulpsychologie NRW
- Lydia Lüttich-Jaspers, Münster
- Cornelia Beeking, Münster
- Dr. med. Jana Schroeder, Münster
- Dr. Irene Schütze, Mainz
- Prof. Dr. Christian Kähler, München
- Prof. Dr. Markus Scholz, Leipzig
- Prof. Judith Samen, Düsseldorf
- Kerstin Lünenbürger, Main-Taunus-Kreis
- Dipl.-Psych. Katrin Göhde, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin, Blankenfelde-Mahlow, Brandenburg
- Constanze Meyer, Psychologische Psychotherapeutin, Berlin
- Sonja Woll-Penzing, Psychologische Psychotherapeutin, Stuttgart
- Sandra Schätzle-Deuble, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin, Lindenberg
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