FRANKFURT/MAIN. Politische Debatten verdecken nach Meinung von Wissenschaftlern der Frankfurter Goethe Universität weitgehend die positiven Effekte des Islamunterrichts. Die empirische Unterrichtsbegleitung finde dagegen kaum Beachtung.
Religionsunterricht ist das einzige Schulfach, das im deutschen Grundgesetz verankert ist. Der islamische Religionsunterricht an deutschen Schulen ist allerdings nach wie vor hochumstritten. Die Diskussionen sind dabei vor allem bestimmt von rechtlichen und politischen Aspekten: Welche islamischen Organisationen eignen sich als Ansprechpartner für den Staat? Wie hoch ist das Risiko, dass sich ausländische Einrichtungen in den Unterricht einmischen? Und welche Auswirkungen hätte es, wenn islamische Organisationen als Religionsgemeinschaften anerkannt würden? Zu diesem Schluss kommt zumindest eine neue Expertise der Akademie für Islam in Wissenschaft und Gesellschaft (AIWG) an der Frankfurter Goethe-Universität. Gemeinsam hatten Fahimah Ulfat, Jan Felix Engelhardt und Esra Yavuz Qualität, Rahmenbedingungen und Umsetzung des islamischen Religionsunterrichts untersucht.
Nach Meinung der Wissenschaftler kommen dadurch andere Aspekte zu kurz, etwa die Frage nach der Qualität des Unterrichts, der Ausbildung von Standards in der Lehrerinnen- und Lehrerausbildung, nach dem Auf- und Ausbau des islamischen Religionsunterrichts sowie den positiven Effekten, die Religionsunterricht – egal welcher Konfession oder Glaubensrichtung – für eine Gesellschaft haben könnte. Insbesondere fehle aber eine empirische Unterrichtsforschung in Bezug auf den islamischen Religionsunterricht.
Noch längst nicht in allen Bundesländern können muslimische Schülerinnen und Schüler an einem „bekenntnisorientierten“ Unterricht in ihrer Religion teilzunehmen. Aktuell erhalten deutschlandweit gerade rund 60.000 von ihnen islamischen Religionsunterricht beziehungsweise islamkundlichen Unterricht. Dies sei nur ein Bruchteil aller muslimischen Kinder und Jugendlichen an deutschen Schulen, deren Anzahl auf rund 580.000 geschätzt werde.
Nach Ansicht von Fahimah Ulfat, wird diese Situation der Rolle des islamischen Religionsunterrichts in einer religionspluralen Gesellschaft keinesfalls gerecht. Die Tübinger Religionspädagogik-Professorin und Mitautorin der Studie sieht starke Argumente für eine Beibehaltung und den Ausbau des islamischen Religionsunterrichts. Der islamische Religionsunterricht übe eine zentrale Anerkennungsfunktion von religiöser Pluralität in Schule und Gesellschaft aus. Schülerinnen und Schüler muslimischen Glaubens könnten sich, ebenso wie ihre Mitschülerinnen und Mitschüler christlichen Glaubens, im Unterricht mit ihrer Religion kritisch und reflektiert auseinandersetzen. Ihre Religion werde als Normalität im Kontext Schule anerkannt. Ulfat: „Der islamische Religionsunterricht ist in der Schule häufig der einzige Ort, an dem über Islam und Menschen muslimischen Glaubens in einer wertschätzenden Art und Weise gesprochen wird, aber auch an dem über viele religiöse und ethische Fragen, die junge Musliminnen und Muslime in Deutschland beschäftigen, offen diskutiert wird.“ Der islamische Religionsunterricht leiste einen wesentlichen Beitrag zur Bildung, da er zur Aneignung von Wissen, zum Verstehen, zur Perspektivenübernahme und somit zur Handlungsfähigkeit im Sinne von Kommunikation und Partizipation befähige. „Diese Kenntnisse und Fähigkeiten“, so Ulfat, „sind Grundlage für Haltungen wie Toleranz, wechselseitigen Respekt und Anerkennung des Anderen.“
Ein Hauptgrund dafür, dass längst nicht alle Bundesländer dieser Argumentationskette folgen, ist laut Expertise, dass die meisten Bundesländer aufgrund religionspolitischer Bedenken islamische Religionsgemeinschaften bislang nicht als Körperschaften des öffentlichen Rechts anerkannt haben. Folgerichtig gebe es in Deutschland daher auch keinen islamischen Religionsunterricht, für den eine einzelne islamische Religionsgemeinschaft verantwortlich ist, mit Ausnahme des Religionsunterrichts der Ahmadiyya-Gemeinschaft in Hessen, an dem allerdings nur wenige Schüler teilnähmen.
Stattdessen würden entweder alternative Modelle praktiziert, in denen mehrere islamische Organisationen in übergreifenden Kommissionen, Beiräten oder über lokale Vertreterinnen und Vertreter eingebunden seien. Dies sei zum Beispiel in Baden-Württemberg, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen der Fall. Einige Bundesländer wiederum erteilten eine in alleiniger staatlicher Verantwortung stehende Islamkunde, wie etwa in Bayern oder Schleswig-Holstein.
Nach Ansicht von AIWG-Geschäftsführer Jan Felix Engelhardt werfen beide Modelle jedoch verfassungsrechtliche Probleme auf: „Einerseits sieht das Grundgesetz keinen Religionsunterricht vor, der ohne anerkannte Religionsgemeinschaft erteilt wird. Andererseits ist die Gefahr hoch, dass der Staat durch die Erteilung eines Islamkundeunterrichts gegen seine Verpflichtung verstößt, religiös und weltanschaulich neutral zu sein. Denn hier bestimmen staatliche Akteure de facto, welche Inhalte einer Religion gelehrt werden sollen und welche nicht.“
Angesichts des hohen öffentlichen Interesses und kontroverser Diskussionen werde häufig vergessen, dass von den rund 8,3 Millionen Schülerinnen und Schülern in Deutschland gerade einmal 0,7 Prozent am islamischen Religionsunterricht teilnähmen, gegenüber jeweils etwa 35 Prozent, im evangelischen oder katholischen Religionsunterricht. Für die Zukunft wünschen sich die Autoren besonders eine stärkere wissenschaftliche Begleitforschung des islamischen Religionsunterrichts. Eine empirische Unterrichtsforschung, die die Interaktionsprozesse von Lehrkräften und Schülern beobachtet und beschreibt, sei von entscheidender Bedeutung für die Qualitätssicherung und die Weiterentwicklung des Unterrichts. In einem zweiten Schritt sollten die Ergebnisse dann besonders Eingang in die Aus und Weiterbildung der muslimischen Religionslehrerinnen und -lehrer finden, denn die Lehrerbildung sei einer der entscheidenden Orte, für die Qualität des Unterrichts. (zab, pm)
Wissenschaftler mahnen: Warum Religionsunterricht gerade jetzt wichtig ist
