Eine Analyse von News4teachers-Herausgeber Andrej Priboschek.
BERLIN. Die Kultusministerkonferenz (KMK) – also ausgerechnet die Riege von Politikern in Deutschland, die für die Bildung zuständig ist – verabschiedet sich von der Wissenschaft. Die KMK beschließt, dem Inzidenzwert künftig weniger Beachtung zu schenken. Infektionsschutz, das wird in der gestrigen Videokonferenz einmal mehr deutlich, kommt in der Welt der Kultusminister praktisch nicht vor. Und wer vor Ansteckungen in Kitas und Schulen warnt, “stigmatisiert Kinder”.
Der Beschluss der Kultusminister ist eine Frechheit. Schon die Vorbemerkung von KMK-Präsidentin Britta Ernst (SPD), Bildungsministerin von Brandenburg, unterschlägt eine wesentliche Information. Sie sagt: „Für die Kinder und Jugendlichen ist der Schulbesuch für ihre weitere Bildungsbiographie von entscheidender Bedeutung – das gilt ganz besonders für die Kleinen, die am Beginn ihrer Schullaufbahn stehen, aber auch für die Abschlussklassen. Viele Kinder und Jugendliche leiden unter der Pandemiesituation. Damit die Folgen nicht dauerhaft ihr Leben begleiten, liegt die Priorität der Kultusministerinnen und Kultusminister darauf, die Schulen so lange wie möglich offen zu halten.“
Was Ernst verschweigt: Der Beitrag der Kultusminister, ihrer (angeblichen!) Priorität gemäß die Schulen so lange wie möglich offenhalten zu können, beschränkt sich auf das Postulat, ebendieses tun zu wollen – und auf ein vierseitiges Faltblatt für Lehrkräfte zum Thema offene Fenster. Ansonsten haben die Kultusminister praktisch nichts für die Sicherheit von Schülern und Lehrern getan.
Das lässt sich auch mit Zahlen belegen. Nordrhein-Westfalens Schulministerin Yvonne Gebauer (FDP) hat einem Zeitungsbericht zufolge unlängst vorgerechnet, wie viel Geld das Land bisher für den Gesundheitsschutz an Schulen in der Corona-Pandemie ausgegeben hat: in der Summe etwa 80 Millionen Euro. Das sind umgerechnet rund 32 Euro pro Schüler, wobei der größte Teil allerdings ein Posten ausmacht, der nur einen kleineren Teil der Schülerschaft betreffen dürfte: Stornokosten für ausgefallene Klassenfahrten nämlich. Und die haben den Gesundheitsschutz an Schulen nicht wirklich erhöht.
Die Ausstattung aller Schulen mit mobilen Luftfiltern hatte Gebauer bereits im August als zu teuer verworfen
Zieht man diesen Posten ab (44 Millionen Euro), dann bleiben läppische 36 Millionen Euro für den Gesundheitsschutz an Schulen (umgerechnet: 14,40 Euro pro Schüler): fünf Millionen Euro, um Lehrkräfte mit FFP2-Masken auszustatten, plus 30 Millionen Euro für zusätzliche Schulbusse, um den Schülertransport zu entzerren und das Ansteckungsrisiko auf dem Weg zur Schule zu verringern. Die Ausstattung aller Schulen mit mobilen Luftfiltern hatte Gebauer bereits im August als zu teuer verworfen: Die Geräte würden bei rund 3.000 Euro Kosten pro Klasse (oder umgerechnet: 100 Euro pro Schüler) „Unsummen verschlingen“, meinte sie seinerzeit.
Zum Vergleich: Zur Rettung der Lufthansa hat der Bund Staatshilfen von neun Milliarden Euro zugesagt – würde diese Summe den Schulen zur Verfügung gestellt, wären das rund 820 Euro pro Schüler. So viel zum Postulat, der Bildung “erste Priorität” einräumen zu wollen.
Was hat die KMK gestern noch beschlossen? „Die Kultusministerinnen und Kultusminister betrachten die Auswirkungen der im Zuge der Eindämmung der SARS-CoV-Pandemie getroffenen Maßnahmen für Kinder und Jugendliche mit großer Sorge. Sie weisen auf die negativen Folgen der sozialen Isolation sowie des Wegfalls von Kontakten zu Gleichaltrigen außerhalb der Familien hin, die durch Schulschließungen und Kontakteinschränkungen entstehen.“ Zu den direkten Gesundheitsgefahren für Schüler und Lehrer durch Infektionen – kein Wort. Im Gegenteil. Wer auf die Ansteckungsgefahr hinweist, wird von der KMK in die Ecke von Kinderhassern geschoben. „In diesem Zusammenhang betonen die Kultusministerinnen und Kultusminister nachdrücklich, dass Kinder und Jugendliche nicht als Gefahr für alle an der Schule Beteiligten stigmatisiert werden sollen.“
Das ist offenbar die neue, gestern unter den Kultusministern vereinbarte PR-Strategie, die das Lamento “Die Schulen sind keine Treiber der Pandemie” ablösen soll (denn zu offenkundig wird langsam, dass die Schulen sehr wohl ein wesentlicher Faktor im Infektionsgeschehen sind). Sachsens Kultusminister Christian Piwarz (CDU) probierte den Slogan gleich mal aus: „Angesichts dieser geringen Infektionszahlen ist es unverantwortlich, insbesondere die Kinder als Beförderer dieser Pandemie zu stigmatisieren”, erklärte er heute etwas unvermittelt.
Tatsächlich macht das zwar niemand – im Gegenteil: Es geht um Gesundheitsschutz auch für Kinder -, aber wer seine Kritiker mit Dreck bewirft, darf hoffen, dass etwas davon kleben bleibt. Eine erbärmliche Masche. Die Nummer hat einen Vorlauf. Wir erinnern uns: Selbst die Kanzlerin, die seit Monaten auf mehr Sicherheit für Schüler und Lehrer drängt, wurde (seinerzeit von Ministerpräsidentin Manuela Schwesig, SPD) auf diese perfide Art angegangen, sodass es aus Merkel herausplatzte: „Ich lasse mir nicht anhängen, dass ich Kinder quäle.”
Gestern morgen – was für ein Zufall! – hatte die „Bild“-Zeitung gefordert: „Schafft endlich den Inzidenzwert als Maß aller Dinge ab!“
Noch gruseliger allerdings ist: Die Kultusminister verabschieden sich endgültig von der Wissenschaft als Entscheidungsgrundlage. Gestern morgen – was für ein Zufall! – hatte die „Bild“-Zeitung via Schlagzeile gefordert: „Schafft endlich den Inzidenzwert als Maß aller Dinge ab!“ Im KMK-Beschluss von gestern Abend liest sich das dann so: „Die ausgeweitete Testung von Kindern und Jugendlichen dient dem Ziel, den Schulbesuch für Schülerinnen und Schüler und Lehrkräfte sicherer zu machen und Infektionen zu identifizieren. Dadurch kann eine höhere Zahl von festgestellten Infektionen hervorgerufen werden und sich die Inzidenz in den Ländern erhöhen. Bei Entscheidungen über den Schulbetrieb ist daher perspektivisch zu prüfen, das Kriterium der Inzidenz um weitere Kriterien zu ergänzen.“ Welche weiteren Kriterien – Kaffeesatz vielleicht? Oder Umfragewerte der Parteien? Das bleibt ungesagt.
Mit anderen Worten: Wenn wir endlich durch flächendeckende Tests ein halbwegs realistisches Bild vom Infektionsgeschehen in Schulen bekommen (für das die Kultusminister mit wissenschaftlichen Stichproben ja schon längst hätten sorgen müssen), dann soll dieser Nachweis nicht mehr gelten, um damit Schutzmaßnahmen zu begründen. Der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach, selbst Epidemiologe, hat den Vorstoß ironisch kommentiert: „Schafft endlich die Thermometer ab. Dann ist der Klimawandel bewältigt! News4teachers
Der Journalist und Sozialwissenschaftler Andrej Priboschek beschäftigt sich seit 25 Jahren professionell mit dem Thema Bildung. Er ist Gründer und Leiter der Agentur für Bildungsjournalismus – eine auf den Bildungsbereich spezialisierte Kommunikationsagentur, die für renommierte Verlage sowie in eigener Verantwortung Medien im Bereich Bildung produziert und für ausgewählte Kunden Content Marketing, PR und Öffentlichkeitsarbeit betreibt. Andrej Priboschek leitete sieben Jahre lang die Öffentlichkeitsarbeit des Schulministeriums von Nordrhein-Westfalen.
In eigener verlegerischer Verantwortung bringt die Agentur für Bildungsjournalismus tagesaktuell News4teachers heraus, die reichweitenstärkste Nachrichtenseite zur Bildung im deutschsprachigen Raum mit (nach Google Analytics) im Schnitt mehr als einer Million Lesern monatlich und einer starken Präsenz in den Sozialen Medien und auf Google. Die Redaktion von News4teachers besteht aus Lehrern und qualifizierten Journalisten. Neben News4teachers produziert die Agentur für Bildungsjournalismus die Zeitschriften „Schulmanager“ und „Kitaleitung“ (Wolters Kluwer) sowie „Die Grundschule“ (Westermann Verlag). Die Agentur für Bildungsjournalismus ist Mitglied im didacta-Verband der Bildungswirtschaft.
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