BERLIN. Ausgangssperren schon ab einer Inzidenz von 100, Schulschließungen aber erst ab 200? Das, was der Bund den Ländern vorschreiben will, macht keinen Sinn – erklärt jetzt die Gesellschaft von Aerosolforschung, in der mehrere Hundert deutsche und international tätige Physiker zusammengeschlossen sind. In einem offenen Brief an die Kanzlerin machen die Forscher deutlich, dass die Corona-Gefahr vor allem in Innenräumen lauert. Eben auch in Klassenzimmern.
Mitten hinein in die Debatte um ein Eingreifen des Bundes in die Länderregelungen zum Corona-Infektionsgeschehen platzt ein offener Brief der Gesellschaft für Aerosolforschung an Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU). In dem Schreiben wird beklagt: „Leider werden bis heute wesentliche Erkenntnisse unserer Forschungsarbeit nicht in praktisches Handeln übersetzt.“ Und der zentrale Befund lautet: „Die Übertragung der SARS-CoV-2 Viren findet fast ausnahmslos in Innenräumen statt. Übertragungen im Freien sind äußerst selten und führen nie zu ‚Clusterinfektionen‘, wie das in Innenräumen zu beobachten ist. Zu diesen Gruppeninfektionen gehören bevorzugt Altenheime, Wohnheime, Schulen, Veranstaltungen, Chorproben oder Busfahrten.“
Die Bundesregierung hatte am Samstag einen Vorschlag für bundeseinheitliche Maßnahmen gegen die dritte Corona-Welle vorgelegt. Der Entwurf für eine Änderung des Infektionsschutzgesetzes soll nun mit den Fraktionen im Bundestag und mit den Ländern abgestimmt werden. Darin enthalten sind etwa nächtliche Ausgangsbeschränkungen bei einer Corona-Inzidenz über 100 und Schulschließungen ab einer Inzidenz von 200.
“Wir müssen uns um die Orte kümmern, wo die mit Abstand allermeisten Infektionen passieren”
Das ist nach Meinung der Wissenschaftler allerdings die falsche Prioritätensetzung: „Die Ausgangssperren versprechen mehr, als sie halten können. Die heimlichen Treffen in Innenräumen werden damit nicht verhindert, sondern lediglich die Motivation erhöht, sich den staatlichen Anordnungen noch mehr zu entziehen.“
Wichtig aus Sicht der Aerosolforscher: „Wenn wir die Pandemie in den Griff bekommen wollen, müssen wir die Menschen sensibilisieren, dass DRINNEN die Gefahr lauert (Hervorhebung im Original, d. Red.). In den Wohnungen, in den Büros, in den Klassenräumen, in Wohnanlagen und in Betreuungseinrichtungen müssen Maßnahmen ergriffen werden. Die andauernden Debatten über das Flanieren auf Flusspromenaden, den Aufenthalt in Biergärten, das Joggen oder das Radfahren haben sich längst als kontraproduktiv erwiesen. Wenn unseren Bürgerinnen und Bürgern alle Formen zwischenmenschlicher Kontakte als gefährlich vermittelt werden, verstärken wir paradoxerweise die überall erkennbare Pandemiemüdigkeit. Nichts stumpft uns Menschen bekanntlich mehr ab als ein permanenter Alarmzustand. Wir müssen uns deshalb um die Orte kümmern, wo die mit Abstand allermeisten Infektionen passieren – und nicht unsere begrenzten Ressourcen auf die wenigen Promille der Ansteckungen im Freien verschwenden.“
Dabei ließen sich durch die kluge Koordinierung von Maßnahmen die Übertragungen effektiv reduzieren. Diese seien auch ohne eine naturwissenschaftliche Ausbildung nachvollziehbar: „Es sind unsere goldenen Regeln zur Infektionsvermeidung.“ Folgende Punkte, die auch den Schulbetrieb betreffen, führen die Wissenschaftler an:
- Infektionen finden in Innenräumen statt, deshalb sollten sich möglichst wenige Menschenaußerhalb ihres Haushaltes dort treffen. Zusätzlich muss man beachten, dass in Innenräumen auch dann eine Ansteckung stattfindet, wenn man sich nicht direkt mit jemandem trifft, sich aber ein Infektiöser vorher in einem schlecht belüfteten Raum aufgehalten hat!
- Man sollte die Zeiten der Treffen und die Aufenthaltszeiten in Innenräumen so kurz wie möglich gestalten.
- Man sollte durch häufiges Stoß- oder Querlüften Bedingungen wie im Freien schaffen.
- Das Tragen von effektiven Masken ist in Innenräumen nötig. In der Fußgängerzone eine Maske zu tragen, um anschließend im eigenen Wohnzimmer eine Kaffeetafel ohne Maske zu veranstalten, ist nicht das, was wir als Experten unter Infektionsvermeidung verstehen. Dabei ist zu beachten, dass der Dichtsitz der Maske für ihre Effektivität mindestens genauso wichtig ist, wie die Abscheideeffizienz des Materials.
- Raumluftreiniger und Filter sind überall dort zu installieren, wo Menschen sich länger in geschlossenen Räumen aufhalten müssen (Wohnheime, Schulen, Alten- und Pflegeheime, Betreuungseinrichtungen, Büros und andere Arbeitsplätze).
- In großen Hallen und Räumen ist die Ansteckungsgefahr viel geringer als in kleinen Versammlungsräumen. Wenn man also wieder Theater, Konzerte und Gottesdienste stattfinden lassen will, sollte das in großen gut gelüfteten Hallen stattfinden oder wenn möglich ins Freie ausgewichen werden.
Die Absender des Briefes verweisen auf ein Positionspapier, das von Dutzenden von Wissenschaftlern aus dem In- und Ausland zusammengetragen wurde und in dem die Befunde beschrieben und die Forderungen begründet werden.
„Luftreiniger können einen sinnvollen Beitrag leisten, um die Partikel und Virenkonzentration in einem Raum zu reduzieren”
Darin wird auch Stellung genommen zur Debatte um die Wirksamkeit von Luftreinigern in Klassenräumen (über die News4teachers ausführlich berichtet) – mit einem eindeutigen Befund: „Luftreiniger können einen sinnvollen Beitrag leisten, um die Partikel und Virenkonzentration in einem Raum zu reduzieren. Bei der Beschaffung von Luftreinigern muss darauf geachtet werden, dass diese für den betrachteten Raum und die betrachtete Anwendung ausreichend dimensioniert sind, um die Partikel und Virenlast signifikant zu verringern. Dem Luftdurchsatz des Gerätes kommt dabei eine größere Bedeutung zu, als der reinen Effizienz des Filters. (…) Fest verbaute Lüftungsanlagen können ebenso sinnvoll sein, sofern sie die Luft filtern, um die Partikel- und Virenlast in einem Raum zu verringern.“
Die Empfehlungen decken sich mit aktuellen Erkenntnissen von Forschern des Hermann-Rietschel-Instituts für Energietechnik der TU Berlin, über die News4teachers unlängst breit berichtet hat. Danach müsste das Auftreten der Virusmutation B.1.1.7 für den Schulbetrieb drastische Konsequenzen haben: Selbst bei Wechselunterricht und Maskenpflicht – das zeigten Berechnungen – können sich Schüler und Lehrer nicht länger als zwei Stunden in einem Klassenraum aufhalten, ohne dass die Ansteckungsgefahr unverantwortlich hoch wird. News4teachers
Hier geht es zu dem offenen Brief sowie zum Positionspapier der Gesellschaft für Aersolosforschung.