Website-Icon News4teachers

Die Bundesnotbremse (samt Schulschließungen) war erfolgreich – und läuft jetzt sang- und klanglos aus. Lauterbach: “Wahlkampf”

BERLIN. Spätestens seit dem gestrigen Wahlsieg von Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Reiner Haseloff ist klar: Die Bundesnotbremse läuft Ende Juni sang- und klanglos aus – obwohl damit die dritte Corona-Welle gebrochen werden konnte. Wenn im Herbst das Infektionsgeschehen noch einmal aufflammen würde, gäbe es für den Präsenzbetrieb in Kitas und Schulen keine Grenze mehr. Einmal mehr gilt: Politik vor Vernunft. Eine Analyse.

Die Bundesnotbremse hat angeblich ausgedient – nach dem 30. Juni sind die Länder wieder frei, ihre Kitas und Schulen um jeden Preis offenzuhalten. Illustration: Shutterstock

Bundesratspräsident Reiner Haseloff gab den Grabredner auf einer Beerdigung. „Der heutige Tag ist für mich ein Tiefpunkt in der föderalen Kultur der Bundesrepublik Deutschland“, sprach der Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt am 21. April vor den Ministerpräsidenten der übrigen 15 Bundesländer mit belegter Stimme. Die Länderkammer berate ein Gesetz, „dessen Entstehung, Ausgestaltung und Ergebnis unbefriedigend sind“.

Anzeige

Haseloff hatte zuvor angekündigt, die Schulen und Kitas unabhängig vom Infektionsgeschehen offenhalten zu wollen. In allen Landkreisen und kreisfreien Städten Sachsen-Anhalts würden die Schulen weiterhin in Betrieb gehalten, «und zwar auch dort, wo wir – wie im Burgenlandkreis – die Inzidenz von 200 überschritten haben», erklärte der Christdemokrat Ende März. Es gehe darum, mit der Pandemie zu leben und in bestimmten Bereichen ein Stück Normalität sicherzustellen.

Das Sterben erwähnte er in diesem Zusammenhang nicht: Sachsen-Anhalt verzeichnet laut aktuellem Corona-Lagebericht des Robert-Koch-Instituts 154 Corona-Tote auf 100.000 Einwohner – und liegt damit, nach Sachsen (242) und Thüringen (199) auf Platz drei dieser Horrorliste. Der Bundesdurchschnitt liegt bei 107.

Hat die Bundesnotbremse denn gewirkt? Der aktuelle Sinkflug der Inzidenzen sei „ja sehr schlagartig und abrupt“ erfolgt, „den hätte man in meinen Augen nicht mit anderen Maßnahmen erreichen können“, sagt Thorsten Lehr, Professor für klinische Pharmazie an der Universität des Saarlandes, der einen Covid-19-Simulator entwickelt hat, mit dem sich die Entwicklung der Pandemie vorhersagen lässt, gegenüber dem “Spiegel”. „Ich glaube auch, dass die Ausgangssperre geholfen hat. Trotzdem werden wir nie hundertprozentig differenzieren können, wie groß der Anteil der Ausgangssperre oder der Schulschließungen war. Aber die Effekte, die wir jetzt sehen, sind dieselben, die wir in anderen Ländern wie Portugal gesehen haben, wo es sehr strenge Maßnahmen gab“ – eben auch Schulschließungen.

„Ich gehe davon aus, dass wir das Ergebnis dieser Lockerungsmaßnahmen sehen werden“

„Wenn wir ein exponentielles Wachstum haben, dann steigen die Zahlen schnell. Wenn wir dann stark bremsen, dann sinken die Zahlen auch schnell. Ich glaube, es war schon zu erwarten, dass die Zahlen mit der Notbremse so heruntergehen“, sagt Lehr. Geht es jetzt, angesichts weitreichender Schulöffnungen, wieder bergauf mit den Infektionen? „Ich gehe davon aus, dass wir das Ergebnis dieser Lockerungsmaßnahmen sehen werden. Dieser freie Fall der Inzidenzen wird sich abbremsen. Jetzt, wo es wieder mehr Kontakte gibt, werden wir auch wieder mehr Infektionen haben. Aber es wird noch ein bisschen dauern, bis wir das sehen. Wir haben hier immer eine gewisse zeitliche Verzögerung von bis zu zwei Wochen.“

Und perspektivisch – im Herbst? „Wir werden bis dahin viele geimpft haben, und die vulnerablen Gruppen werden sich hoffentlich auch weiterhin gut schützen. Problematisch könnte sein, dass Kinder sich in Kindergärten oder Schulen infizieren. Das müssen wir beobachten und uns als Gesellschaft überlegen, wie es dort mit den Impfungen weitergeht.“

Absehbar ist: kaum. Für Kinder unter 12 Jahren gibt es keinen zugelassenen Impfstoff – und für Schüler darüber wohl erst einmal keine Impf-Empfehlung durch die Stiko, sodass mit Zurückhaltung durch die Eltern zu rechnen ist. Trotzdem kann die Bundesnotbremse aus Sicht von Noch-Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) Ende Juni außer Kraft treten. „Sie kann auslaufen jetzt“, sagte Merkel vergangene Woche in Berlin. Die Kanzlerin machte zugleich für den Fall wieder bundesweit steigender Infektionszahlen deutlich: „Sollte sich etwas entwickeln durch Mutationen, was wir alle nicht hoffen, dann können wir das jederzeit reaktivieren.“

„Das Recht der Kinder auf Bildung war durch die überzogene Bundesnotbremse unter die Räder gekommen“

Fraglich ist allerdings, ob dazu im Herbst noch die Bereitschaft besteht – Merkel scheidet mit der Bundestagswahl im September aus dem Amt, und CDU-Kanzlerkandidat Armin Laschet legte sich nach Informationen der Deutschen Presse-Agentur von Teilnehmern in Beratungen des CDU-Präsidiums hinsichtlich der Bundesnotbremse bereits fest: „Es gibt angesichts sinkender Inzidenzzahlen keinen Anlass, sie zu verlängern.“ Es gibt aber bei niedrigen Inzidenzen auch eigentlich keinen Grund, sie zu beenden – es sei denn, man plant, bei einem künftigen erneuten Anstieg des Infektionsgeschehens auf Kita- und Schulschließungen zu verzichten.

Genau das plant Sachsen offenbar. So hat Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) bereits angekündigt, nach den Sommerferien die Schulen unabhängig von allen Inzidenzen offenhalten zu wollen. „Das Recht der Kinder auf Bildung war durch die überzogene Bundesnotbremse unter die Räder gekommen. Das darf nicht wieder passieren“, so zitiert ihn „Bild“. Dass Amtskollege Haseloff als Wahlsieger von Sachsen-Anhalt die Kitas und Schulen ohne Bundesnotbremse noch einmal schließen lässt, erscheint ebenfalls ausgeschlossen.

Die Virologin Prof. Melanie Brinkmann, die die Bundesregierung berät, zeigt angesichts solcher Perspektiven wenig Verständnis dafür, dass die Bundesnotbremse einfach ausläuft, wie News4teachers bereits berichtete. Damit falle ein wichtiger Notfallmechanismus weg, so Brinkmann. „Man hat das mit so viel Mühe durchgesetzt, und jetzt lässt man es einfach auslaufen. Das kann ich nicht nachvollziehen.“

SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach sagt gegenüber der “Rheinischen Post”: „Ich würde die Bundesnotbremse nicht auslaufen lassen.“ Sie habe sich als Reserve, wenn die Situation sich wieder verschlechtere, durchaus bewährt. „Aber man muss einfach sagen, wir sind im Wahlkampf. Im Wahlkampf musste die Bundesnotbremse dran glauben.“ News4teachers / mit Material der dpa

Sorge vor Jojo-Effekt: Bei Kindern und Jugendlichen sinken die Infektionszahlen – gehen die mit den Schulöffnungen wieder rauf?

Die mobile Version verlassen