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„Die Kinder brauchen jetzt menschliche Kontakte. Und was bekommen sie? Lernstress!“

BERLIN. In etlichen Bundesländern ist nach Monaten des Distanzlernens der Präsenzunterricht wieder angelaufen – und zahlreiche Schülerinnen und Schülern sehen sich, kaum wieder im Schulgebäude angekommen, mit Klassenarbeiten und hohen Leistungsanforderungen konfrontiert. Kein Wunder: Die Lehrpläne wurden von den Kultusministerien weder ausgesetzt noch angepasst. Und die Lehrerinnen und Lehrer stehen vor dem Problem, bald Zeugnisse schreiben zu müssen. Lehrkraft und News4teachers-LeserIn „Unfassbar“ sieht die Entwicklung (selbst-)kritisch – und kommentiert entsprechend. Wir dokumentieren den Post hier noch einmal.

“Lernen nach Begabung oder Interesse vielleicht doch mal wieder ausprobieren?” Illustration: Shutterstock

Unfassbar, am 4. Juni um 0.25 Uhr.

Zur Zeit werden die Kids von vielen lieben Kollegen zugeballert mit Leistungskontrollen und schlechten Zensuren. Die Schulleitungen der Sek 1 Schulen bekommen anscheinend ihre Lehrkräfte nicht eingefangen. Da fantasieren einige von halben Klassen, die sitzen bleiben. In Nebenfächern werden teilweise zwei Drittel von Klassen gemahnt. Die haben ja alle nix gemacht. In 5 Monaten Homeschooling in Musik von 1 auf 5? Kein Problem.

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Ganz im Ernst und so unter uns: Die Kids werden es im späteren Leben bestimmt nicht schwerer haben oder einen Cent weniger verdienen oder gar zu schlechteren Menschen werden, wenn sie den Lernstoff in Erdkunde Mal ein paar Monate nicht mitbekommen haben. Da entstehen auch keine Lerndefizite. Wenn ich nicht weiß, wie in Nordamerika das Wetter entsteht oder was Schwefelsäure ist oder die Arbeitsblätter in Geschichte nicht ausgefüllt habe, dann ist das eben so. Passierte ja auch einigen schon vorher im normalen Präsenzunterricht und die, so habe ich gehört, habens auch meistens überlebt bisher. Die meisten merken sich das alles sowieso nur bis zur Arbeit, danach brauchen sie den Speicherplatz für das nächste Thema, das dann wieder nur bis zum finalen Abruf gespeichert bleibt. Nennt man in Deutschland LERNEN.

Pädagogische Noten geben. Tut auch gar nicht weh. Sind wir nicht alle Pädagogen?

Man sollte sich eher mal fragen, wieso alle Nebenfächer bis zum Abschluss durchexerziert werden müssen. Ist ja nicht so, dass ich dank Handy nicht alles in 5 Sekunden gegoogelt habe, falls ich es plötzlich brauche. Lernen nach Begabung oder Interesse vielleicht doch mal wieder ausprobieren? Crazy, ich weiß.

Die Kids brauchen jetzt wieder Struktur, reale soziale Kontakte, Leute, die ihnen zuhören, Bewegung, frische Luft, Sonne im Gesicht. Und was bekommen sie? Volle Klassenräume, Vormittage unter Atemschutzmasken, Lehrer im Stress, schlechtes Gewissen über all den versäumten Lernstoff, Selbsttests und Leistungskontrollen. Ach, ich soll keine Arbeit schreiben im Nebenfach? Nenn ich das halt Hausaufgabenkontrolle oder Kurztest. Kann man dann ja auch noch ein paar machen die nächsten Wochen, sind ja keine Arbeiten.

Der Erlass des Kumis in meinem Bundesland gibt es her, und das ist wirklich erstaunlich wie ich meine, dass ich mein Notenspektrum wohlwollend auf 1 bis 3 oder 4 verkleinere dieses Schuljahr. Es gibt Kollegien, die das so machen. Pädagogische Noten geben. Tut auch gar nicht weh. Sind wir nicht alle Pädagogen? Oder waren es irgendwann mal? Oder wären es gerne?

Wer letztes Schuljahr nicht sitzen geblieben wäre und wegen Corona versetzt wurde, kann dieses Schuljahr gar nicht sitzen bleiben. Er müsste es freiwillig tun.

Was soll das also?

Es kommt mir so vor, als ob in Schule mittlerweile alles danach ausgerichtet wird, dass es juristisch nicht anfechtbar ist von außen. Alle müssen irgendwie die gleichen Bedingungen bekommen, damit sich keiner benachteiligt fühlen kann und klagt.

Die schwachen Schüler werden zynisch benutzt, um sich politisch zu positionieren und irgendwelche Maßnahmen durchzusetzen

Wäre es wirklich um die Schwachen gegangen im letzten Jahr, die warum auch immer Zuhause nicht lernen können, hätte man sich die in die Schule holen müssen. Jeder Klassenlehrer weiß genau, wer das in seiner Klasse ist. Um die ging es aber nie. Und um die wird es auch nie gehen. Sie werden zynisch benutzt, um sich politisch zu positionieren und irgendwelche Maßnahmen durchzusetzen.

Wer nach dem Jahr nicht mitbekommen hat, dass wir ein totes Pferd reiten mit unserem Schulsystem in diesem Land, dem ist wohl nicht mehr zu helfen.

Mach jetzt ‘ne Privatschule auf mit kleinen Lerngruppen, zugewandten Menschen und echten multiprofessionellen Teams, die Kinder und Jugendliche ernst nehmen, wo sie sich gut aufgehoben fühlen und mit Freude hingehen und lernen, du wirst dich vor Anmeldungen nicht retten können.

Mal sehen wie lange das tote Pferd noch geritten wird, wahrscheinlich noch lange, nachdem die Knochen längst zu Staub verfallen sind. Reden wir‘s uns weiter schön und klopfen uns selbst auf die Schultern, wie gut wir das alles machen. Darin sind wir ja geübt, das fällt uns ganz leicht. Solange die eigenen Befindlichkeiten weiter gehegt und gepflegt werden, ist doch alles prima. Und jetzt Scheuklappen wieder auf und weiter im Galopp. News4teachers

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