BERLIN. Die Ständige Impfkommission (Stiko) empfiehlt eine generelle Impfung von Kindern und Jugendlichen ausdrücklich nicht – angesichts des bislang in der Regel milden Verlaufs einer Corona-Infektion bei jungen Menschen. Die Erfahrungen aus Israel und Großbritannien mit der neuen Delta-Variante weisen jedoch in eine andere Richtung: Viele Kinder dort zeigen Long-Covid-Symptome oder landen sogar im Krankenhaus. Experten warnen die Stiko und die Politik davor, eine Durchseuchung der Schülerschaft in Kauf zu nehmen.
Der Cottbuser Virologe Prof. Dr. med. Frank Hufert hält eine Impfung von Kindern und Jugendlichen gegen das Coronavirus für sinnvoll. Dieses komme jetzt in die Schulen, sagte der Forscher an der Brandenburgischen Technischen Universität Cottbus-Senftenberg (BTU). Bei der Ansammlung von Schülern sei das Ansteckungsrisiko gegeben. Er halte die Impfung für «sinnvoll, sowohl zum Individualschutz als auch zur Bekämpfung der Pandemie».
Im Herbst dürfen wir nicht wieder unvorbereitet die Schule starten. Es gibt nur 3 Möglichkeiten: 1) Normaler Unterricht und sehr viele Kinder infizieren sich 2) Wieder Wechselunterricht und Maske 3) Kinder werden geimpft. Aus meiner Sicht ist Covid gefährlicher als Impfung https://t.co/Lmja3FDQxl
— Karl Lauterbach (@Karl_Lauterbach) July 3, 2021
Die Ständige Impfkommission (Stiko) hat bisher keine generelle Impfempfehlung für Kinder und Jugendliche ab 12 Jahren ausgesprochen (für Jüngere gibt es noch keinen zugelassenen Impfstoff). Sie empfiehlt Impfungen nur für 12- bis 17-Jährige mit bestimmten Vorerkrankungen wie Adipositas, Diabetes und chronischen Lungenerkrankungen. Das Gremium begründete seine Empfehlung unter anderem damit, dass das Risiko einer schweren Covid-19-Erkrankung für diese Altersgruppe gering sei.
Virologe Hufert: «Alle meine Kinder sind geimpft, sie sind alle in dieser Altersgruppe»
Rein biologisch betrachtet gebe es die Möglichkeit, Kinder zu «durchseuchen», sagt Hufert. Das habe man in England und Israel gesehen. Dort hätten zehn Prozent der Kinder eine Long-Covid-Symptomatik unterschiedlicher Ausprägung. Auch in Deutschland seien bereits 20 Kinder gestorben, die Vorerkrankungen hatten. Die Stiko empfehle Corona-Schutzimpfungen bei Vorerkrankungen. «Warum aber sollten bei uns die Kinder durchseuchen und erkranken und eben auch ein Risiko haben, etwa an Long-Covid zu erkranken oder auch schwerer zu erkranken?», fragt der Experte.
Eine Impfung sei ein ärztlicher Eingriff, aber mit einer vernünftigen Aufklärung sei das zu machen. «Alle meine Kinder sind geimpft, sie sind alle in dieser Altersgruppe», betonte Hufert. Er schließe sich da den Ausführungen der amerikanischen Fachgesellschaften an. Diese hatten sich für eine Impfung in dieser Altersgruppe ausgesprochen. Der Wissenschaftler hat längere Zeit in den USA gearbeitet.
Auch der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach warnt davor, eine Durchseuchung von Kindern und Jugendlichen in Kauf zu nehmen. Gegenüber der „Rheinischen Post“ erklärte Lauterbach, die Stiko argumentiere, dass Covid-19 für Kinder harmlos sei. Lauterbach hält dagegen: „Für die Delta-Variante gilt dies meiner Ansicht nach aber nicht“, in Großbritannien beispielsweise würden bereits viele Kinder mit Corona in Krankenhäuser behandelt. Deshalb müsse die Ständige Impfkommission ihre Empfehlung auf den neusten Stand bringen. „Die Angaben der Stiko beziehen sich immer auf alte Varianten“, erläutert Lauterbach. Eine Durchseuchung der Kinder mit der Delta-Variante sei zu riskant.
«Man muss einfach erkennen: Entweder Kinder und Jugendliche werden geimpft oder sie infizieren sich»
Ob eine allgemeine Impfempfehlung für Kinder und Jugendliche ausgesprochen wird, werde weiter genau geprüft, sagte Stiko-Leiter Thomas Mertens in einem Interview für die ZDF-Sendung «Maybrit Illner». Er sehe bislang keine Hinweise auf schwerere Krankheitsverläufe durch die Delta-Variante bei Kindern und Jugendlichen. Natürlich wisse die Stiko, dass es vermehrt Fälle geben werde, wenn man sie nicht impfe. Aber die Auswirkungen auf die Zahl der Krankenhausbehandlungen sowohl in dieser Altersgruppe als auch in der Gesamtbevölkerung seien «eher gering».
Long Covid – neue Studie aus Norwegen. Junge, nicht-hospitalisierte Leute, 6 Monate nach der Erkrankung: 28% litten an Geruchsverlust, 21% an chronischer Erschöpfung, 13% an Kurzatmigkeit, 13% an Konzentrationsstörungen und 11% an Gedächtnisproblemen. https://t.co/WsIh3Udi9P 1/2
— Martin Moder (@Martin_Moder) June 23, 2021
Also alles halb so wild? Diesem Eindruck widerspricht auch der Epidemiologe Prof. Dirk Brockmann. Mit Blick auf Kinder und Jugendlichte mahnte er im ZDF: „Man muss einfach erkennen: Entweder werden sie geimpft oder sie infizieren sich“. Die Delta-Variante des Coronavirus breite sich bevorzugt in den Bevölkerungsschichten aus, in denen noch nicht viele geimpft seien. Und auch wenn die Corona-Verläufe bei Kindern und Jugendlichen „in der Regel weniger schlimm“ sind, zeigten Studien, „dass ein Prozent der Kinder hospitalisiert wird“, so Brockmann weiter. „Das ist keine Trivialität“, auch bei Kindern und Jugendlichen seien schwere Verläufe möglich.
In Deutschland gibt es rund elf Millionen Schülerinnen und Schüler – allein aus dieser Gruppe (die Jüngeren nicht eingerechnet) wären in Deutschland also 110.000 Krankenhaus-Fälle zu erwarten. News4teachers / mit Material der dpa