AUGSBURG. Insgesamt seien die Lernrückstände größer als die Dauer der Schulschließungen selbst, konstatiert eine internationale Meta-Studie des Augsburger Bildungswissenschaftlers Klaus Zierer. Kinder und Jugendliche aus bildungsfernen Milieus trifft es dabei besonders hart.
Die meisten Jugendlichen in Deutschland durften im Juni wieder komplett in die Schulen. Kein Wechselunterricht mehr, kein Homeschooling. Doch ist damit wirklich alles wieder gut für die Schülerinnen und Schüler?
Der Augsburger Schulpädagoge Klaus Zierer hat im Rahmen einer Meta-Studie internationale Daten zu den Auswirkungen der Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie ausgewertet. Sein Befund ist eindeutig: Kinder und Jugendliche weisen in allen Bereichen ihrer Persönlichkeitsentfaltung Defizite vor.
Durchschnittlich ein halbes Jahr Lernrückstand
Mit Blick auf die Lernleistungen betrachtete Zierer Studien aus den USA, Belgien, den Niederlanden, der Schweiz und Deutschland. Verglichen wurde jeweils die Lernleistung in normalen Schulzeiten und während der Schulschließung. Ausgewertet wurde die Entwicklung der mathematischen und muttersprachlichen Kompetenz. Die Daten stammen aus dem Frühjahr 2020, als zu Beginn der Pandemie nahezu weltweit Schulen geschlossen wurden.
Obwohl sich einzelne Studien in Umfang und Methodik unterschieden, wurde laut Zierer Eines sehr deutlich: Alters- und fächerübergreifend fielen alle Schülerinnen und Schüler durch die Schulschließungen signifikant zurück. „Auf ein Schuljahr hochgerechnet entsprach der Rückgang der Lernleistungen durchschnittlich etwa dem Verlust eines halben Jahres. Man muss zudem davon ausgehen, dass sich diese Lernrückstände im Lauf des Schuljahres und mit dem Fortschreiten der Pandemie weiter verstärkt haben“, erklärt er.
Dass die Lernrückstände damit größer sind als die Dauer der Schulschließungen selbst, lasse sich auf negative Effekte der sozialen Isolierung zurückführen. „Lernende“, fasst Zierer zusammen, „haben in der Einsamkeit häufig auch zu lernen verlernt.“ Besonders die Situation jüngerer Schulkinder alarmiere: Teilweise war der Lernzuwachs bei Grundschulkindern im Homeschooling nur halb so hoch wie im Präsenzunterricht. Markant zeigte sich überdies die Beobachtung, dass sich während des Distanzunterrichts die schon bestehenden Differenzen zwischen Schülerinnen und Schülern in Abhängigkeit zum Leistungsniveau und zum sozio-ökonomischen Hintergrund der Familien vergrößerten. „Lernende, die bereits vor der Pandemie schlechtere Lernleistungen erbrachten, waren ebenso stärker betroffen wie Lernende, die in einem sozialen Brennpunkt aufwachsen“, erläutert Zierer.
Weltweite Zunahme an psychischen Beeinträchtigungen
Mit Blick auf die psycho-soziale Entwicklung lieferten die Studien ein einhelliges Urteil: Ängste, Depressionen, Einsamkeit, Gereiztheit, Einschlafprobleme, Kopfschmerzen, Niedergeschlagenheit, Bauchschmerzen und Nervosität haben im Vergleich zu Erhebungen aus den früheren Jahren in allen Altersgruppen deutlich zugenommen. „Wer sozial isoliert wird, keine Kontakte mehr hat, Freunde nicht mehr treffen kann und ständig Abstand halten muss, hat schwierige Voraussetzungen, um sich gesund entwickeln zu können“, resümiert Zierer die Datenlage. Besonders Bemerkenswert scheint ihm auch in diesem Kontext, dass Kinder und Jugendliche aus bildungsfernen Milieus stärker unter den Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie gelitten haben. „Die Corona-Krise“, so schlussfolgert der Augsburger Bildungswissenschaftler „hat zu einer Verschärfung von Bildungsungerechtigkeit geführt.“
Körperliche Verfassung angezählt
Mit Blick auf die körperliche Verfassung lasse sich an der internationalen Datenlage zwar erkennen, dass Kinder und Jugendliche während der Pandemie nicht weniger Zeit im Freien verbrachten, aber doch weniger systematisches Training wie in Sportvereinen hatten und zudem die Bildschirmzeiten bedingt durch die Schulschließungen gestiegen sind. „Wer bis zu neun Stunden am Tag vor den Rechnern sitzt, der hat keine Zeit mehr für Bewegung“, erklärt Zierer das Problem, „die Folge ist eine Abnahme der körperlichen Leistungsfähigkeit und eine Zunahme des Körpergewichts.“ Auch hier sind die Effekte in bildungsfernen Milieus größer, was erneut die Frage der Bildungsgerechtigkeit ins Zentrum rückt.
Droht eine Bildungskatastrophe?
Nimmt man die genannten Aspekte zusammen, so zeige sich, dass gerade in der Bildung von Kindern und Jugendlichen Kollateralschäden der Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie festzustellen sind. „Wenn wir bedenken“, so bringt es Zierer auf den Punkt, „dass ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen Wirtschaftskraft und Bildungsniveau ebenso besteht wie zwischen Demokratiefähigkeit und Bildungsniveau, dann ist es höchste Zeit, dass bildungspolitisch entschlossen zu handeln.“
Zierers Meinung nach reicht es nicht aus, dass in den Ministerien lediglich virologisch argumentiert wird und Schulen nur verwaltet werden. Vielmehr fordert der Wissenschaftler: „Um eine Krise zu bewältigen, bedarf es eines pädagogischen Masterplans. Schule und Bildung muss neu gedacht werden.“ Konkret fordert er zum Beispiel eine „längst überfällige“ Lehrplanreform, die bestehende Curricula neu gewichtet und entrümpelt. Überdies bedürfe es weiterer Schritte, wie der Implementation von Maßnahmen zur individuellen Förderung, etwa durch Sommerschulen auf höchstem Niveau „und nicht als Beschäftigungstherapie“ (Zierer), der Stärkung der Elternkooperation und einer Digitalisierung im Bildungsbereich mit Augenmaß, damit nicht viel Technik angeschafft werde, ohne sinnvoll eingesetzt zu werden.
„Wie sich Schulschließungen auswirken, hängt stark von der jeweiligen Schule und der familiären Situation ab“, sagt Zierer und macht damit deutlich, dass es durchaus Schulen und auch Familien gegeben habe, die in der Krise über sich hinausgewachsen seien. „Aber es ist die bildungspolitische Verantwortung, dass flächendeckend alle Kinder und Jugendliche die Chance haben, einigermaßen unbeschadet durch die Krise zu kommen. Kein Kind darf zurückgelassen werden.“
Schule und Bildung müssten daher, nach Ansicht des Augsburger Ordinarius für Schulpädagogik, insgesamt und grundlegend neu gedacht werden. Zierer: „Freude ist der Motor des Lernens, der Bildung und des Lebens, und es höchste Zeit, sie als Leitmotiv in der Schule zu verankern, damit die um sich greifende pädagogische Klimakrise bewältigt werden kann.“
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