BERLIN. Vergangene Woche Nordrhein-Westfalen, gestern Niedersachsen und Sachsen: Immer mehr Landesregierungen verabschieden sich offiziell davon, den Schul- und Kitabetrieb in der Corona-Pandemie von Inzidenzwerten abhängig zu machen – trotz rasant steigender Infektionszahlen unter Kindern und Jugendlichen. Wie weit diese hingenommen werden, bis Reaktionen erfolgen (und: ob überhaupt), bleibt völlig offen. NRW-Schulministerin Yvonne Gebauer hat jetzt erkennen lassen, dass es dafür nicht mal ein Konzept gibt. SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach warnt vor einem „zynischen Experiment“.
Er gehe davon aus, dass fünf Prozent der erkrankten Kinder unter Long-Covid-Symptomen leiden könnten, sagte Lauterbach gegenüber dem „Spiegel“ und betonte: „Es wäre ein zynisches Experiment, die Jüngsten einer Krankheit auszusetzen, vor der viele Erwachsene Angst haben.“ Angesichts stark steigender Fallzahlen brauche es eine Grundsatzentscheidung, die sich nicht mehr verdrängen lasse, so der SPD-Politiker. „Entweder wir entschließen uns, die Inzidenzen weiter zu begrenzen, dann wären unpopuläre Maßnahmen nötig. Oder wir ignorieren die Inzidenzzahlen künftig weitgehend, dann geben wir den Schutz der Ungeimpften auf.“ Die meisten Schülerinnen und Schüler in Deutschland sind nicht geimpft.
Wir lassen im Wahlkampf eine massive Zunahme der Fallzahlen zu. Das ist ein Experiment mit den Ungeimpften und unseren Kindern, sehr viele #LongCovid Opfer. Machen wir so weiter durchseuchen wir statt zu impfen. Offen ausgesprochen wird das nicht. https://t.co/U2AvIzSTpB
— Karl Lauterbach (@Karl_Lauterbach) August 24, 2021
Eine „Durchseuchung der Bevölkerung“ wäre die Folge, warnte Lauterbach – beginnend eben bei den Kindern. Der studierte Epidemiologe kritisierte: „Dahinter steht die Haltung: Wer krank wird, ist selber schuld.“ Möglicherweise schwinge bei vielen „auch ein Stück Gleichgültigkeit“ mit. Auf Twitter erklärte er: „Machen wir so weiter, durchseuchen wir statt zu impfen. Offen ausgesprochen wird das nicht.“
Hintergrund: Bund und Länder beraten nach Angaben von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) über neue Kennzahlen zur Beurteilung der Corona-Lage in Deutschland. «Wir haben ja Erfahrungswerte aus dem letzten Winter, etwa aus Dezember, Januar, wo wir eine sehr, sehr starke Belastung in den Kliniken hatten», sagte Spahn im Interview bei «Welt». Gemeinsam mit den Ländern schaue man sich jetzt an, was die richtigen Kennziffern für weiteres Handeln seien. «Wir können sie ableiten aus den letzten zwei Wellen.»
Spahn hatte angekündigt, dass der bisherige Inzidenzwert von 50, der noch im Infektionsschutzgesetz als Richtwert für schärfere Maßnahmen verankert ist, ausgedient habe. Das Gesetz wird demnach nun geändert. Künftig soll die Zahl der Krankenhausaufnahmen wegen Covid-19 entscheidend sein.
Für den Schulbereich aber offenbar nicht – jedenfalls nicht, wenn es nach Nordrhein-Westfalens Schulministerin Yvonne Gebauer (FDP) geht. „Als alleiniges Kriterium halte ich die Krankenhauseinweisungen aus Schulsicht nicht für geeignet. Für jüngere Menschen könnten andere Kriterien hinzukommen. Dies sollten die RKI-Experten mit dem Bund vorbereiten“, erklärte sie in einem Interview mit der „Rheinischen Post“. Sie räumt indirekt ein, dass die Landesregierung über keinen Notplan verfügt, wie sie damit umgehen soll, wenn die grassierende Delta-Variante des Coronavirus die Gesundheit von Tausenden von Kindern bedroht.
„Die Inzidenzzahlen sind nicht mehr das alleinige Kriterium bei der Bewertung der Lage und das ist auch richtig so“
Gebauer setzt lediglich auf die Maßnahmen, die schon im vergangenen Schuljahr Schulschließungen nicht verhindert haben. Sie sagt: „Die Inzidenzzahlen sind für alle Bereiche in Nordrhein-Westfalen nicht mehr das alleinige Kriterium bei der Bewertung der Lage und das ist auch richtig so. Die Landesregierung hat sich daher konsequenterweise auch für einen inzidenzunabhängigen Schulbetrieb entschieden, allerdings unter strengsten Sicherheitsvorkehrungen, etwa der Maskenpflicht im Unterricht, hochwertigen und optimierten Testverfahren sowie Impfangeboten an Schulen. Wir alle haben erlebt, was Wechsel- und Distanzunterricht für unsere Kinder und deren Familien bedeuten. Die Landesregierung wird alles daran setzen, den Präsenzunterricht aufrechtzuerhalten.“
Das scheint vielerorts schon nicht mehr gegeben. Es häufen sich die Meldungen aus den Kommunen, nach denen ganze Schülergruppen in Quarantäne geschickt werden.
„Wie wir neben der Inzidenz das Infektionsgeschehen künftig bewerten, muss jetzt der Bund entscheiden“
Gefragt, was denn nun an die Stelle der Inzidenz als Beurteilungsmaßstab für einen Notfall trete, antwortet die Schulministerin: „Wir führen derzeit eine gesellschaftliche Debatte darüber. Die Ministerpräsidentenkonferenz hat erklärt, dass künftig die Zahl der Krankenhauseinweisungen eine größere Rolle spielen soll. Wie wir neben der Inzidenz das Infektionsgeschehen künftig bewerten, muss jetzt der Bund entscheiden. Danach werden wir diese Empfehlung auf Landesebene beurteilen.“
Das Robert-Koch-Institut (RKI), von dem Gebauer Vorschläge erwartet, gibt übrigens mit Blick auf die Delta-Variante und die unklare Datenlage hinsichtlich schwererer Krankheitsverläufe bei Kindern eine klare Empfehlung – nämlich ab einem Inzidenzwert von 50 die Abstandsregel und damit Wechselunterricht in kleineren Lerngruppen vorzusehen. Sämtliche Kommunen in Nordrhein-Westfalen liegen seit Anfang dieser Woche oberhalb dieser Marke. Konsequenzen? Keine. News4teachers / mit Material der dpa