BERLIN. Auf der Zielgeraden ihrer Kanzlerschaft geht Angela Merkel offenbar noch einmal auf Konfrontationskurs gegen ihren Nachfolger als CDU-Vorsitzenden – und zwar beim Thema Schulen. Anlass sind die rasant steigenden Infektionszahlen unter Kindern und Jugendlichen. Während Armin Laschet, CDU-Chef, Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen und Kanzlerkandidat mit miserablen Umfragewerten, einen Vorstoß unternehmen lässt, die Quarantäne-Regeln für Schülerinnen und Schüler weitgehend zu kippen, schlägt das Kanzleramt einem Bericht der „Bild“ zufolge in interner Runde Alarm: Die Ministerpräsidenten dürften „die Durchseuchung der Kinder nicht hinnehmen“. Das wollen zumindest die meisten aber offenbar doch tun.
Die Medien der „Bild“-Gruppe trommeln seit Monaten für weit offene Schulen möglichst ohne Einschränkungen durch Corona-Schutzmaßnahmen. Aktuell heißt es empört (Versalien im Original): „Familien in ganz Deutschland hoffen auf normalen Schul-Alltag, Bundesländer lockern die drakonischen Quarantäne-Regeln für Schulkinder. Doch das Kanzleramt schlägt schon wieder SCHUL-ALARM!“
Anlass, “SCHUL-ALARM” zu schlagen, besteht durchaus: Vergleicht man die aktuellen RKI-Daten (im Wochenbericht vom 26. August) mit denen vier Wochen zuvor – also vor Schuljahresbeginn im ersten Bundesland, Mecklenburg-Vorpommern –, dann hat sich die Zahl der neuinfizierten Mittelstufen-Schüler in Deutschland versiebenfacht, die der neuinfizierten Grundschüler sogar verneunfacht. Keine andere Altersgruppe weist eine solche Dynamik aus. Und der Trend setzt sich fort: Innerhalb von nur einer Woche hat sich in Deutschland die Inzidenz unter den Grundschülern (Fünf- bis Neunjährige) von 49,34 auf 98,82 sowie unter den Sekundarstufe-I-Schülern von 70,24 auf 143,1 verdoppelt, wie News4teachers berichtet.
Die US-amerikanischen Kinderkrankenhäuser wenden sich in einem offenen Brief in der @nytimes an die Öffentlichkeit: https://t.co/4NPi2g29nr
— Sandra Ciesek (@CiesekSandra) August 30, 2021
In einer internen Schaltkonferenz mit den Chefs der Staatskanzleien der Bundesländer hat nach „Bild“-Informationen Kanzleramtsminister Helge Braun (CDU), selbst Mediziner, vor lockeren Corona-Regeln in Schulen gewarnt. Die Länder müssten eine „massive Corona-Verbreitung“ verhindern.
“Doch die Länder schlugen zurück: Schulen seien Ländersache! Einmischung aus Berlin sei unerwünscht!”
„Bild“: „BRAUNS VORSCHLAG: Die Länder sollten sich auf einheitliche Schulregeln einigen. Natürlich nach dem strengen Geschmack des Kanzleramts. Doch die Länder schlugen zurück: Schulen seien Ländersache! Einmischung aus Berlin sei unerwünscht! Auch Brauns Panikmache wiesen die Ländervertreter zurück: Die Schulen seien ‚keine Inzidenztreiber‘, der Vollalarm aus dem Kanzleramt also unangebracht.“ Stattdessen hätten die Bundesländer das Robert-Koch-Institut aufgefordert, „endlich die strengen Quarantäne-Vorgaben für Schüler zu kippen. Die Empfehlung, nach einem Infektionsfall die ganze Klasse nach Hause zu schicken, bedeute ,faktisch Schulschließungen‘“.
Unabhängig davon, dass „Bild“ zur Freude der Querdenker-Szene seit Monaten gegen alle Corona-Beschränkungen schießt, ist die Redaktion offenbar mit einigen Landesregierungen bestens vernetzt – und konnte so praktisch live aus den Ministerpräsidentenkonferenzen mit der Bundeskanzlerin berichten. Heißt: Der Bericht ist, wenn man von seinen Meinungselementen („Brauns Panikmache“) absieht, glaubwürdig.
Merkel, die sich seit Beginn der Pandemie von Wissenschaftlern beraten lässt und immer wieder die Länder zur Vorsicht getrieben hat – bis hin zur Bundesnotbremse -, ist wohl tatsächlich angesichts des Lockerungskurses der Länder insbesondere bei den Schulen alarmiert. Zumal sich immer mehr Landesregierungen dem anschließen: Gestern erklärte Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU), es werde keinen Wechselunterricht im Freistaat mehr geben, egal wie wild das Infektionsgeschehen tobt, wie News4teachers berichtet.
Gebauer will, dass „nur noch nachweislich infizierte“ Schüler in Quarantäne müssen – nicht mehr Sitznachbarn oder die ganze Klasse
Die Öffnungen werden vor allem von Kanzlerkandidat Armin Laschet forciert, der in Nordrhein-Westfalen die bundesweit höchsten Inzidenzen einschließlich Rekordwerten unter Kindern und Jugendlichen zu verantworten hat – den Kurs nun aber offenbar auf die Spitze treiben will: Schulministerin Yvonne Gebauer (FDP) erklärte heute im Schulausschuss des Landtages einem Bericht des WDR zufolge, sie wünsche sich, dass „nur noch nachweislich infizierte“ Kinder und Jugendliche in Quarantäne müssen – nicht mehr die Sitznachbarn oder gar die ganze Klasse. Damit würden – News4teachers berichtet auch darüber – alle Warnungen aus der Wissenschaft in den Wind geschlagen.
Ich verstehe die Sorgen & den Ärger vieler Eltern gut, die sagen wir haben uns 1,5 Jahre besonders eingeschränkt und jetzt sollen wir bei unausgegorenen + löchrigen Schutzkonzepten, bei steigenden Fallzahlen unsere Kinder in Kita/Schule schicken, weil angeblich alles harmlos sei?
— Janosch Dahmen (@janoschdahmen) August 29, 2021
Die Schutzmaßnahmen der Landesregierung seien wirksam, so Gebauer. Man wolle den Präsenzunterricht unabhängig von Inzidenzzahlen aufrechterhalten und Unterrichtsausfall möglichst verhindern. Nach der Sitzung schloss die Ministerin auf Nachfrage einen nordrhein-westfälischen Alleingang nicht aus, falls es keine Einigung auf eine entsprechende bundesweite Regelung geben sollte. Am kommenden Montag beraten die Gesundheitsminister von Bund und Ländern darüber.
Bedeutet: Laschet prescht vor – ohne Rücksicht auf Verluste. Und: gegen Merkel. News4teachers
