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Wie können Lehrer der zunehmenden Heterogenität erfolgreich begegnen? bak-Seminartag macht deutlich: Nur im Team!

HEIDELBERG. Die Welt wird bunter, unübersichtlicher; die Gesellschaft driftet auseinander. Wie können Lehrerinnen und Lehrer der zunehmenden Heterogenität begegnen? Und was können Lehrerausbilderinnen und -ausbilder tun, um den Berufsnachwuchs darauf vorzubereiten? Der Bundesarbeitskreis (bak) Lehrerbildung, in dem sie organisiert sind, lud zu seinem 55. Seminartag online nach Heidelberg – und nahm sich im Rahmen des Kongresses des Großthemas an. Hunderte von Lehrerausbilderinnen und -ausbilder aus ganz Deutschland nahmen teil.

Lehrer als Einzelkämpfer? Das Modell hat über kurz oder lang ausgedient. Foto: Shutterstock

Als man sich vor drei Jahren Gedanken darüber gemacht habe, welches Thema der bak-Seminartag 2021 haben sollte, wurde der Wunsch laut, sich über eine zunehmend komplexere (Schul-)Welt auszutauschen, über eine Gegenwart, in der zunehmende Heterogenität und stetige Veränderung zum pädagogischen Alltag geworden sind, so berichtete Helmut Klaßen, Bundesvorsitzender des bak Lehrerbildung – seinerzeit nicht ahnend, dass kurz darauf mit der Corona-Krise das System bis an die Grenze der Belastbarkeit herausgefordert werden würde. Der gewählte Titel beschreibt den (hohen) Anspruch der Veranstaltung: „Lehrkräfteausbildung: Komplexität erleben, Stabilität gewinnen, Haltung zeigen“.

Vorweg: Dem wurde der Kongress gerecht – eine Riege von Wissenschaftlern, darunter der renommierte Bildungsforscher Prof. em. Olaf-Axel Burow („Dieser Wandel eröffnet Chancen, ruft aber auch Ängste und Widerstände hervor“), und nicht zuletzt die in einer „Kreativzone“ engagierten Teilnehmerinnen und Teilnehmer selbst machten die Dimension der Aufgabe deutlich. Gleichzeitig wuchs, mit zunehmendem Praxisbezug, der Mutmach-Faktor. So schwer erschien es dann am Ende doch nicht mehr, den Herausforderungen zu begegnen.

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„Handlungsbedarfe für die Lehrkräfteausbildung gab es auch schon vor Corona“, sagte Klaßen. Entsprechend groß sei die Notwendigkeit nun, nach den Erfahrungen der vergangenen anderthalb Jahre Pandemie, „gemeinsam in einen Denk- und Entwicklungsprozess zu gehen und Strategien für eine zeitgemäße Lehrkräfteausbildung in einer sich schnell wandelnden Zeit gewinnen“, wie der bak-Chef betonte. Positiv gewendet klang das dann so: „Wir haben den besten Beruf der Welt“, so befand Markus Popp, Landessprecher Baden-Württemberg des bak Lehrerbildung. „Wir lernen von der Expertise der erfahrenen Kolleginnen und Kollegen und werden von den Fragestellungen der Referendarinnen und Referendare herausgefordert. Langeweile ist für uns ein Fremdwort.“

„Lehrkräfte haben den blöden Job, auf eine Welt vorbereiten zu müssen, die heute kein Mensch kennt“

Stoff zur Orientierung bot dann der 55. bak-Seminartag, der online aus der Universität Heidelberg übertragen wurde, reichlich. Zunächst auch unfreiwillig lustige Anschauung – als nämlich Moderator Heinz Hinz versuchte, den Vortrag „Zurechtkommen in einer Durcheinanderwelt“ einzuleiten und dabei von einem digital erzeugten Echo gestört wurde, das ihn übertönte. Alltags-Durcheinander eben. Nach der kleinen Technik-Panne übernahm dann der Organisationsberater und Coach Wolfgang Looss den Part, theoretisch in den Umgang mit Turbulenzen und Ungewissheiten einzuführen. „Lehrkräfte“, so stellte er dabei fest, „haben den blöden Job, auf eine Welt vorbereiten zu müssen, die heute kein Mensch kennt“. Sein Rat: sich dabei auf sich selbst zu besinnen und ins „Palaver“ mit Kolleginnen und Kollegen zu gehen. „Wir haben immerhin uns selbst und einander“, so Looss.

In die gleiche Kerbe schlug der Soziologe und Psychologe Prof. Heiko Roehl von der Universität Freiburg. Die Welt habe sich in den vergangenen drei, vier Jahrzehnten massiv verändert. Wer in den 90-er Jahren in einem Café Kaffee bestellte, bekam bestenfalls die Auswahl „Tasse oder Kännchen“ angeboten – heute, Roehl illustrierte das mit einem Auszug aus der Karte von Starbucks, werde man herausgefordert, zwischen 64 Kaffeesorten auszuwählen. Ob in Politik, Gesellschaft oder eben Schule: Die Welt sei früher übersichtlicher gewesen.

Auch für Schülerinnen und Schüler. In den 80er-Jahren gab es klar definierte Jugendkulturen, von Poppern über Müslis bis hin zu Punks. Und heute? Feste kulturelle Milieus gebe es unter jungen Menschen nicht mehr. „Identitätsbildungsprozesse bei Jugendlichen haben sich grundlegend verändert. Heute gibt es multiple Zugehörigkeiten, eine Pluralität der Lebensformen. Jedes eigene Subsystem bildet eigene Filterblasen aus, es herrscht eine hohe Spezialisierung. Gleichzeitig ist alles fluide.“

Für die Gesellschaft – und die Schule – heiße das: „Einfache Wahrheiten haben ausgedient.“ Was bedeutet das konkret für die künftigen Lehrerinnen und Lehrer? Roehl: „In diesen Zeiten rasanter Veränderung geraten Berufsrollen immer stärker unter Druck. Erwartungen und Anforderungen werden komplexer, widersprüchlicher und diffuser.“ Umso wichtiger sei es, die stetige Reflexion der eigenen Rolle – der Lehrerrolle also – voranzutreiben. „Niemand verführt so sehr auf die Privatebene wie Schülerinnen und Schüler“, erklärte Roehl. Hier erfordere die Rolle aber: klare Distanz.

Andererseits auch, das machte der Vortrag von Prof. Anne Sliwka von der Universität Heidelberg deutlich: enge Kooperation – und zwar mit Kolleginnen und Kollegen. „Collective Efficacy“ – die kollektive Wirksamkeit von Lehrkräften ist mit 1.57 die höchste gemessene Effektsstärke in der vielzitierten Hattie-Studie. „Trotz dieses so klaren Befundes, der auch von anderen internationalen Studien bestätigt wird, werden die Implikationen in Deutschland viel zu wenig diskutiert“, erklärte Sliwka. „Wenn die kooperative Professionalität von Lehrkräften der Schlüssel zum Lernerfolg von Schülerinnen und Schülern ist, wie können wir sie an Schulen ermöglichen und stärken? Was genau können Lehrkräfte gemeinsam erreichen? Worauf kommt es bei der Zusammenarbeit an?“

„Dort gibt es keine Einzelarbeit von Lehrkräften mehr, Lernen wird als kollaborativer Designprozess verstanden“

Sliwka berichtete von Erfahrungen aus Japan, von der Partner-Universität in Kyōto, die regelmäßig Fachtage für Lehrkräfte organisiert – bei denen sich Lehrerinnen und Lehrer (auch über Fächergrenzen hinweg) gegenseitig im Unterricht besuchen und über ihre praktischen Erfahrungen austauschen. Sie erzählte von einer australischen Partner-Schule, einer Schule mit MINT-Schwerpunkt, wo Unterricht in den Stufen 10 und 11 ausschließlich in hybriden Projekten stattfindet, für die feste Lehrer-Teams verantwortlich sind. „Dort gibt es keine Einzelarbeit von Lehrkräften mehr“, sagte sie. „Lernen wird als kollaborativer Designprozess verstanden“ – womit die Bildungsforscherin zum Konzept des „Deeper Learning“ führte.

„Deeper Learning beschreibt eine Pädagogik, in der Lernende sich tiefgreifend mit Wissen auseinandersetzen und selbst Wissen generieren, indem sie es sowohl über instruktiv gesteuerte Prozesse der Aneignung als auch über selbstregulierte Prozesse der Ko-Konstruktion und Ko-Kreation verarbeiten“, so heißt es bei der Heidelberg School of Education, dem Mitveranstalter des bak-Kongresses. „Die Aneignung von Wissen einerseits und den vier zentralen überfachlichen Zukunftskompetenzen Kommunikation, Kollaboration, kritisches Denken und Kreativität andererseits, gehen beim Deeper Learning Hand in Hand. Beim Deeper Learning werden Wissensaneignung und kreatives Problemlösen in einem Lernarrangement verknüpft und aufeinander bezogen. Es geht jetzt um die Weiterentwicklung dieser Pädagogik für das digitale Zeitalter.“

Kreiert werden dabei hybride Lernsettings, bei denen von der Instruktion bis zur Übung unterschiedliche Phasen vorgesehen sind. Lehrkräfte nehmen im Verlauf einer Sequenz unterschiedliche Rollen ein. Zunächst geht es darum, den Prozess zu planen, Wissen zu strukturieren und anschaulich zu vermitteln, später stehen eher das Coaching der Lernenden und das „Bauen von Lerngerüsten“ im Vordergrund. Auch Feedback an die Schülerinnen und Schüler und Formen der gemeinsamen Reflexion gehören zu den zentralen Aufgaben der Lehrkräfte im Prozess. „Teamstrukturen braucht man dabei, weil eine einzelne Lehrkraft die Komplexität nicht gestalten kann“, betonte Sliwka.

„Kann unser Schulsystem ohne ein Mehr an Kooperativer Professionalität mit der rasanten internationalen Entwicklung mithalten?“, so fragte sie. „Oder müssen wir damit rechnen, dass wir weiter abfallen?“ Stand jetzt hinke Deutschland enorm hinterher. Das Chaos, das in der Corona-Krise hierzulande im Schulbetrieb herrschte, scheint die These zu bestätigen.

Allerdings, betonte Sliwka, könne beim Aufholen durchaus auf die Lehrkräfte gesetzt werden. Denn die würden – einmal losgelassen – schnell feststellen, dass ein Konzept wie „Deeper Learning“ zu einer sehr viel größeren Berufszufriedenheit führe. Das Unterrichtsdesign werde flexibler und kreativer, die pädagogische Aufgabe deshalb spannender. Von denen, die Erfahrungen mit dem Unterrichten im Team gemacht hätten, „kenne ich niemanden, die oder der wieder zurück will. Allein in der Black Box – das ist eben auch eine sehr reduzierte Art von Arbeit.“ Andrej Priboschek / News4teachers

„Das ist nicht mal eben zu machen“: Warum der schulpraktische Teil der Lehrerausbildung so wichtig ist – ein Interview

 

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