BERLIN. „Deutlicher kann kaum gezeigt werden, dass Politik zugelassen hat, dass diejenigen, die sowieso schon in schwierigen sozialen Lagen aufwachsen, durch die Krise noch weiter abgehängt wurden“, stellt VBE-Bundesvorsitzender Udo Beckmann fest. Er spricht von einer „Schmach für die politisch Verantwortlichen“. Der Anlass: die Veröffentlichung des Schulbarometers, einer repräsentativen forsa-Umfrage unter Lehrerinnen und Lehrern im Auftrag der Robert-Bosch-Stiftung. Sie zeigt auf, dass Schulen in Brennpunkten vor deutlich größeren Herausforderungen stehen als Schulen an sozial stärkeren Standorten, dass sie deshalb aber keineswegs mehr unterstützt werden. Schlimmer noch: Die Ausstattung ist oftmals sogar schlechter.
Im Auftrag der Robert Bosch Stiftung in Kooperation mit der „Zeit“ hat das Meinungsforschungsinstitut Ende September zum dritten Mal Lehrerinnen und Lehrer an allgemeinbildenden Schulen zur Situation der Schulen in der Corona-Krise befragt. Zum ersten Mal wurden im aktuellen Schulbarometer nicht nur Daten zu den verschiedenen Schularten erfasst, sondern auch zur sozialen Lage der Schulen. „Gerade dieser Vergleich von Schulen mit einem hohen und einem geringen Anteil von armen Familien belegt: Die soziale Ungleichheit ist in der Pandemie deutlich größer geworden, und Schulen in sozial benachteiligter Lage stehen jetzt vor erheblich größeren Herausforderungen als andere Schulen“, so heißt es in dem Bericht, der auf dem Deutschen Schulportal veröffentlicht wurde.
„Allein der Blick auf die konkreten Auswirkungen der psychosozialen Belastungen macht das sehr deutlich.“ So beobachten laut Studie insgesamt 23 Prozent der befragten Lehrkräfte eine deutliche Zunahme aggressiven Verhaltens bei ihren Schülerinnen und Schülern. An Schulstandorten mit einem geringen Anteil von armen Familien bestätigen 14 Prozent der Befragten einen solchen Anstieg; an Schulen in sozial benachteiligter Lage aber sagen 44 Prozent der Lehrkräfte, das aggressive Verhalten habe zugenommen.
Auch bei den Lernrückständen zeigt sich dem Bericht zufolge eine Verschärfung der sozialen Ungleichheit. Insgesamt gaben die Lehrkräfte in der Befragung an, dass etwa jede dritte Schülerin und jeder dritte Schüler zu Beginn des Schuljahres 2021/22 deutliche Lernrückstände aufweist. In Schulen, in denen weniger als 25 Prozent der Familien Transferleistungen beziehen, hat allerdings nur ein Viertel der Schülerinnen und Schüler deutliche Lernlücken. In Schulen, in denen der Anteil von Leistungsempfängern über 50 Prozent liegt, lassen sich nach Einschätzung der Lehrkräfte dagegen bei knapp der Hälfte aller Schülerinnen und Schüler deutliche Lernrückstände feststellen.
„Motivationsprobleme, Konzentrationsmängel und Absentismus sind deutlich angestiegen“
„An Schulen, an denen mehr als 50 Prozent der Kinder und Jugendlichen Eltern haben, die Transferleistungen beziehen, ist die Ausstattung mit Luftfiltern und digitalen Endgeräten schlechter. Sie haben höhere Lernrückstände und zeigen deutlicher Probleme bei der Bewältigung der Krise und der Wiederaufnahme des geregelten Unterrichts: Motivationsprobleme, Konzentrationsmängel und Absentismus sind deutlich angestiegen“, so fasst VBE-Chef Udo Beckmann weitere Ergebnisse der Studie zusammen.
Der Bundesvorsitzende unterstreicht: „Hier zeigt sich, dass das Aufholprogramm der Bundesregierung den wahren Kern des Problems nicht trifft. Im deutschen Bildungssystem sind wir in der Regel fähig und ausreichend flexibel, Lernrückstände aufzuholen oder schlicht Kompetenzen in einer anderen Klassenstufe zu vermitteln. Wie aber sollen wir die emotionalen und sozialen Beeinträchtigungen, die insbesondere während der Schulschließungen entstanden, ausgleichen? Der von den Kultusministerien gesetzte Fokus auf Lernen und Wissenserwerb muss unbedingt durch Möglichkeiten ergänzt werden, um die individuelle Förderung umzusetzen und Freiräume zu schaffen für die Herstellung von guten Beziehungen, Vertrauen und Strukturen zur Stärkung der emotionalen und sozialen Kompetenzen.“
Ähnlich bitter fällt das Fazit der GEW aus. „Die sozialen Probleme, die viele Kinder ohnehin schon haben, werden in besonders belasteten Schulen in der Corona-Pandemie verdoppelt und verdreifacht. Das darf sich ein reiches Land wie Deutschland nicht leisten“, sagt GEW-Vorsitzende Maike Finnern mit Blick auf die Ergebnisse des Schulbarometers. Sie mahnt rasche und nachhaltige Unterstützung insbesondere für Brennpunktschulen sowie benachteiligte Kinder und Jugendliche an. „Nach den Corona-Maßnahmen brauchen wir jetzt dringend ein soziales und pädagogisches Maßnahmenprogramm, das diesen Fehlentwicklungen nicht kosmetisch und kurzsichtig, sondern umfassend und nachhaltig entgegensteuert.“
„Die Gelder müssen nach Sozialindex vorrangig dahin fließen, wo die Schulen sie am dringendsten benötigen“
Finnern stellt fest, dass das Aktionsprogramm „Aufholen nach Corona“ der Bundesregierung und die entsprechenden Länderprogramme angesichts der Probleme viel zu kurz springen würden und sozial nicht ausgewogen seien. „Damit die Unterstützung wirklich dort ankommt, wo sie gebraucht wird, muss die Zusammenarbeit zwischen Bund, Ländern und Kommunen unbürokratischer und zügiger laufen. Vor allem müssen die Gelder aber sowohl unter den Ländern, als auch unter und in den Kommunen zielgerichteter verteilt werden. Dabei lautet der Grundsatz: Ungleiches muss ungleich behandelt werden. Die Gelder müssen nach Sozialindex vorrangig dahin fließen, wo die Schulen sie am dringendsten benötigen“, betont die GEW-Vorsitzende. „Die Mittel der aktuellen Programme sind wichtig, die soziale Schieflage in einem unterfinanzierten und sozial selektiven Schulsystem ist aber allein mit befristeten Projektmitteln nicht aufzulösen. Die neue Bundesregierung muss hier einen Schwerpunkt setzen.“
Die soziale Spaltung zeige sich auch bei der Digitalisierung im Schulsystem. „Ob bei Lernplattformen, Videounterricht, digitalen Lernkonzepten oder WLAN: Überall haben Brennpunktschulen das Nachsehen gegenüber Gymnasien. Sogar bei der Ausstattung mit Luftfiltern schneiden Schulen in schwieriger sozialer Lage schlechter ab. Bildungsteilhabe und Gesundheit hängen bis heute vom Geldbeutel der Eltern und der Finanzlage der Kommune ab“, unterstreicht Finnern.
„Erschreckend“ sei, so Finnern, dass in der Pandemie keine Unterstützungsmaßnahmen eingeführt worden sind, die Schülerinnen und Schüler mit psychosozialen Problemen unterstützen. „Nur Leistungsdruck und Stoffpaukerei für gute Noten sind der falsche Weg. Wichtig ist, dass Schulen auf die Nöte und Sorgen der Kinder eingehen und ihnen dabei helfen, Motivation und Lernfreude zu entwickeln und zu Konzentration und Ruhe zurückzufinden. Gerade in Krisenzeiten müssen Fächer, die der Persönlichkeitsentfaltung, dem spielerischen Lernen, der Bewegung und der Kreativität Raum geben, stärker in den Vordergrund rücken.“ Dazu brauchten Schulen die nötige Freiheit und personelle Unterstützung.
Zu einem pädagogischen Post-Corona-Programm gehöre, Schule zum Ort der Begegnung und des sozialen Zusammenhalts, der Vielfalt von Lernmethoden und Lernzugängen zu machen. „Wenn die Kultusministerien die ‚normale Schule‘ ausrufen: Das neue ‚Normal‘ muss sozialer, inklusiver und personell besser untersetzt sein“, hebt die GEW-Vorsitzende hervor. News4teachers
Umfrage unter Lehrkräften: 95 Prozent geimpft. Nur wenige Klassenräume mit Luftfiltern
