BREMEN. Die Schule wird den Anforderungen der heutigen Migrationsgesellschaft nicht gerecht, stellen Bremer Wissenschaftlerinnen in einem Projekt fest. Besonders die Fremdsprachenanforderungen für das Abitur sollten ihrer Meinung nach überarbeitet werden.
Für einen substanziellen Teil der Schülerinnen und Schüler in Deutschland ist ein zukünftiges Leben im Ausland eine realistische Option – für kurze Zeit oder auf Dauer, aus Interesse oder gezwungenermaßen. Transnationale Migration in diesem Sinne in den Blick zu nehmen, war Ziel des auf drei Jahr angelegten Projekts „Transnationale Mobilität in Schulen (TraMiS)“ der Universität Bremen, in Kooperation mit zwölf Schulen und Unterstützung der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW).
Migration von Schülerinnen und Schülern sei bislang fast ausschließlich als in der Vergangenheit liegende Erfahrung verstanden worden. Entsprechend würden meist nur Folgen von Migrationserfahrungen für die Beschulung als Anschlussfähigkeit an die Erfordernisse des hiesigen Systems diskutiert, so die Bremer Forscherinnen Yasemin Karakaşoğlu und Dita Vogel im Ergebnisbericht des Projekts.
In drei Projektphasen hatten Schülerinnen und Schüler, Eltern, Lehrkräfte und Schulleitungen kurze Fallgeschichten diskutiert, geschildert, was sie problematisch finden und was besser geregelt werden könnte. Außerdem haben die Forscherinnen Schulen im Ausland besucht, um nach Anregungen für transnational inklusive Schulen zu suchen. Um gute Beispiele und neue Ideen in die Lehrkräftebildung einzubringen, wurden unter anderem kostenlos herunterladbare Comics und illustrierte Handouts entwickelt.
Im Ergebnis bestätigten Yasemin Karakaşoğlus und Dita Vogels Untersuchungen, dass das Wissen und die Haltung von Lehrkräften in der Schule der Migrationsgesellschaft für das Gelingen von Bildungsbiografien zentrale Aspekte seien. Konkret bedürfe es besonders einer informierten Haltung zu unterschiedliche Migrations- und Bleibeperspektiven, den Erwartungen an geflüchtete Jugendliche sowie des Bewusstseins für die Notwendigkeit einer mehrsprachigen Gestaltung des Unterrichts.
Ein elementares Problem im Migrationskontext bildeten auch die Aufnahmemodelle in Deutschland, die, so Karakaşoğlu und Vogel, dem Deutschlernen vor dem fachlichen Lernen Priorität gäben, statt beides zu integrieren. Neben alternativen Modellen im Ausland könnten hier nach Ansicht der Forscherinnen Multi- und bilinguale Ansätze in Deutschland Veränderungspotenziale aufzeigen.
Fast zwangsläufig ergibt sich aus diesen Überlegungen der vielleicht spektakulärste Vorschlag des Berichts. „Eine zweite Fremdsprache in der Schule lernen oder eine Sprachprüfung in einer beliebigen Sprache bestehen – das sollte gleichwertig als Voraussetzung für die Allgemeine Hochschulreife anerkannt werden“, fasst Dita Vogel den Kern der Reformidee zusammen. Von dieser Änderung würden vor allem mehrsprachig aufgewachsene Jugendliche profitieren. Sie müssen derzeit meist Französisch, Spanisch oder Latein als ihre vierte oder fünfte Sprache lernen, wenn sie studieren wollen. Mehrsprachig aufwachsende Kinder machen in westdeutschen Großstädten oft die Hälfte aller Kinder aus. In einem „Policy Brief“ haben die Projektbeteiligten ihren Reformvorschlag auch der KMK zugeleitet.
Insgesamt würde eine andere Perspektive nicht nur bestehende Diskriminierungen beseitigen und mehrsprachig Aufgewachsene stärken, sondern auch Lehrkräftemangel mildern und ökonomische Chancen bieten. „Wenn Schulen nur auf ein Leben in Deutschland vorbereiten, werden sie den vielfältigen transnationalen Bezügen der Kinder und Jugendlichen von heute nicht gerecht“, so Yasemin Karakaşoğlu. (zab, pm)
• Kurzdossier „Alle Sprachen zählen“
• Kurzdossier „Transnationale Mobilität in Schulen – Ergebnisse des Forschungs- und Entwicklungsprojekts TraMiS“
OECD: Gegliedertes Schulsystem erschwert Bildung für Einwandererkinder