BERLIN. Was die bevorstehende Omikron-Explosion für die Schulen bedeutet, lässt sich im Ausland bereits beobachten: In New York beispielsweise werden viermal so viele Kinder und Jugendliche in Kliniken eingewiesen wie vor Auftreten der Variante. Die deutschen Kinderärzte-Verbände sprechen sich zwar mal wieder gegen Schulschließungen aus, bringen aber Wechselunterricht ins Gespräch. Ein Berliner Amtsarzt hält Schutzmaßnahmen in Bildungseinrichtungen angesichts der drohenden Entwicklung allerdings für sinnlos: „Omikron fegt durch alles durch“.
Kita und Schule als große Durchseuchungsparty? Der Berliner Amtsarzt Dr. med. Patrick Larscheid hat das Festhalten der Politik an der Präsenzpflicht in Schulen gegenüber dem „Tagesspiegel“ damit begründet, dass es „epidemologisch keinen Unterschied“ mache, ob die Kinder in die Bildungseinrichtungen gingen oder nicht: Omikron sei so ansteckend, dass sich die Schülerinnen und Schüler im privaten Umfeld ebenso anstecken würden, sagte Larscheid mit Blick auf die hohen Fallzahlen in Ländern wie Frankreich. Tatsächlich lässt sich im Ausland beobachten, was uns wohl sehr bald bevorsteht.
Immer mehr Kinder und Jugendliche werden laut einem Bericht der „tagesschau“ mit Corona-Infektionen in New Yorker Krankenhäuser eingeliefert. Dies sei eine Folge des Anstiegs der Omikron-Fälle in der Metropole, meldeten demnach die Gesundheitsbehörden. So seien seit Anfang des Monats viermal so viele Unter-18-Jährige mit Corona in Kliniken eingewiesen worden wie zuvor. In der Stadt sei die Zahl bis zum 23. Dezember von 22 auf 109 gestiegen. Etwa die Hälfte der Patienten sei jünger als fünf Jahre. Für Kinder dieser Altersgruppe gibt es keinen zugelassenen Impfstoff. Der »New York Times« zufolge liegt der Anstieg der Zahl der pädiatrischen Fälle doppelt so hoch wie der bei den Erwachsenen.
Die Gesundheitskommissarin des Bundesstaats New York, Mary Bassett, erklärt: „Wir machen die New Yorker auf diesen rasanten Anstieg der Einlieferungen bei Kindern aufmerksam, damit Kinderärzte, Eltern und Erziehungsberechtige sofortige Maßnahmen ergreifen können, um unsere jüngsten New Yorker zu schützen.“ Sie appelliert an die Eltern: „Schützen Sie Ihre Kinder ab fünf Jahren, indem Sie sie vollständig impfen lassen. Schützen Sie Kinder unter fünf Jahren, indem Sie dafür sorgen, dass alle Menschen in ihrer Umgebung durch Impfungen, Booster, das Tragen von Masken, das Meiden von Menschenmengen und Tests geschützt sind.“
„Dieser neue Anstieg kommt zusätzlich zu den Delta-Fällen, die wir ohnehin noch haben”
New York ist in den USA kein Einzelfall: Die »Washington Post« berichtet, dass auch die Zahlen der pädiatrischen Krankenhauseinweisungen in Ohio, Texas und Pennsylvania aufgrund von Omikron deutlich anstiegen. „Dieser neue Anstieg kommt zusätzlich zu den Delta-Fällen, die wir ohnehin noch haben”, so zitiert das Blatt Claudia Hoyen, Virologin an einer Kinderklinik in Cleveland. Dazu müssten auch die üblichen Fälle von gebrochenen Knochen und Grippe behandelt oder geplante Behandlungen von krebskranken Kindern vorgenommen werden. So befänden sich die Kinderkrankenhäuser deswegen „in einer akuten Krise“, sagte Hoyen.
Ähnlich ist die Lage in Frankreich. Angesichts der explosionsartigen Ausbreitung von Omikron insbesondere unter Kindern und Jugendlichen fordern Beschäftigte im Gesundheitswesen aktuell von der französischen Regierung, die Weihnachtsferien im Januar zu verlängern, um die Schulkinder vor Ansteckungen zu schützen, wie Euronews berichtet. „Sehr geehrter Herr Minister! wir, die Angehörigen der Gesundheitsberufe, die seit Beginn der Coronavirus-Pandemie unermüdlich mobilisiert wurden, sind sehr besorgt über das derzeitige Ausmaß der Viruszirkulation des Coronavirus unter Kindern und Jugendlichen im Schulalter.“
Sie schreiben weiter: „Seit Anfang November wurden mehr als 300.000 Kinder und Jugendliche positiv auf Covid-19 getestet. Die Krankenhauseinweisungen von Kindern auch auf Intensivstationen, haben die Spitzenwerte aller bisherigen Wellen übertroffen, wobei in den letzten sechs Wochen über 800 Kinder unter 10 Jahren und 300 Jugendliche zwischen 10 und 19 Jahren stationär behandelt wurden, und diese Zahlen steigen weiter an. (…) Wir erwarten in den kommenden Wochen eine beispiellose Welle von Erkrankungen von Kindern mit pädiatrischem multi-systemischem Entzündungssyndrom (PIMS) sowie von Folgeerkrankungen, die in einigen Fällen mit der Entwicklung einer dauerhaften Form der Krankheit verbunden sind (‚pädiatrisches langes Covid‘).“ Die Niederlande, Belgien und Dänemark haben wegen Omikron die Weihnachtsferien verlängert.
“Die Erfahrung auch aus den vorherigen Pandemiewellen lehrt, dass sich ein besonderes Risiko von Kindern nicht bestätigt hat”
Die deutschen Kinderärzte-Verbände DGKJ, DGPI und BVKJ – die seit Beginn der Pandemie für weit offene Schulen eintreten – beunruhigen solche Meldungen allerdings nicht. In einer aktuellen Stellungnahme heißt es: „Aktuelle Presseberichte aus Ländern wie Südafrika, England oder den USA warnen davor, dass Kinder und Jugendliche von der aktuellen Omikron-Variante in besonderem Maße betroffen wären und es zu einer erhöhten Krankheitsschwere in dieser Altersgruppe mit vermehrten Krankenhauseinweisungen kommen würde. Detaillierte Analysen allerdings relativieren diese Befürchtungen. Noch ist es zu früh für eine endgültige Bewertung, aber Erfahrungsberichte aus dem Tshwane District in Südafrika, aus London und Australien sind beruhigend. Die Erfahrung auch aus den vorherigen Pandemiewellen mit den Varianten Alpha und Delta lehrt, dass sich ein besonderes Risiko von Kindern in keiner dieser Wellen bestätigt hat. Hinzu kommt, dass Bevölkerungs- und Sozialstrukturen in Südafrika, aber auch in London oder New York nicht mit den Verhältnissen in Deutschland vergleichbar und insofern Rückschlüsse mit besonderer Vorsicht zu treffen sind.“
Dass kein besonderes Infektionsrisiko für Kinder bestehen würde, lässt sich durchaus bestreiten: Seit dem Frühjahr, seit also regelmäßig in Schulen getestet wird, liegen die Ansteckungsquoten bei Schülerinnen und Schülern in Deutschland drei- bis viermal so hoch wie die der anderen Altersgruppen, wie sich den RKI-Daten entnehmen lässt. Richtig ist lediglich, dass Kinder deutlich seltener schwer erkranken als Erwachsene.
Auf Schutzmaßnahmen in Schulen verzichten? Das meinen selbst die Kinderärzte-Verbände nicht
Dass deshalb Schutzmaßnahmen in deutschen Bildungseinrichtungen in Kitas und Schulen unnötig wären, meinen allerdings selbst diese drei Verbände nicht. „In der Bekämpfung der Pandemie stehen verschiedene Möglichkeiten zur Verfügung. Einerseits die Befolgung der allgemeinbekannten Hygieneregeln (AHA-L), andererseits die Beschränkung unserer Sozialkontakte (Isolation der Infizierten, Quarantäne der Kontaktpersonen und allgemeine Lockdown-Maßnahmen) und natürlich die rasche Durchimpfung inkl. Boosterung unserer Bevölkerung. In den Schulen sollte die S3-Leitlinie – Schulen in Zeiten der SARS-CoV-2-Pandemie der AWMF (Arbeitsgemeinschaft der Medizinisch Wissenschaftlichen Fachgesellschaften) konsequent Anwendung finden.“
Hintergrund: Die S3-Leitlinie, in dem Corona-Schutzmaßnahmen für den Schulbetrieb zusammengefasst sind, wurde im vergangenen Jahr auf Initiative des Bundesbildungsministeriums von 40 Verbänden und Fachgesellschaften entwickelt und abgestimmt.
Ein Blick in das Papier offenbart: Darin wird keineswegs ein uneingeschränkter Präsenzunterricht empfohlen, wie ihn 15 der 16 Bundesländer (Ausnahme: Thüringen, das gerne in den Distanzunterricht gehen würde) noch immer vorsehen und den die Bundesregierung nach eigenem Bekunden favorisiert. Vielmehr heißt es darin: „Bei mäßigem Infektionsgeschehen sollte eine Kohortierung von Klassen/Jahrgängen erfolgen. Bei hohem Infektionsgeschehen soll zusätzlich eine gestaffelte Öffnung nach Jahrgängen und/oder eine Halbierung der Klassen erfolgen.“ Wechselunterricht also? Auch den hat die KMK bislang ausgeschlossen. News4teachers / mit Material der dpa
Hier lässt sich die S3-Leitlinie herunterladen.