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„Es ist selbst für uns als Lehrereltern ein permanentes Laufen gegen eine Wand“: LRS und Dyskalkulie – Betroffene berichten

Lese-Rechtschreibschwäche und Dyskalkulie werden häufig zum Teufelskreis (Symbolbild). Foto: Shutterstock

KÖLN. Der Umgang mit Schülern, die besondere Schwierigkeiten im Lesen, Rechtschreiben und Rechnen aufweisen, ist an Schulen „ungenügend“ – meint der Kölner Arbeitskreis LRS & Dyskalkulie, wie News4teachers unlängst berichtete. Durch die Pandemie gerieten betroffene Kinder und Jugendliche immer mehr aus dem Fokus der Lehrkräfte. Im Leserforum zu dem Beitrag entspann sich eine lebhafte Diskussion, in der die Lese- und Rechtschreibstörung auch mit Faulheit in Verbindung gebracht wurde. Ein Elternteil eines betroffenen Kindes – selbst Lehrkraft – beschreibt daraufhin sehr eindrücklich seine Erfahrungen. Wir möchten diesen Post gerne einem größeren Publikum vorstellen, deswegen dokumentieren wir ihn hier noch einmal.

Lese-Rechtschreibschwäche und/oder Dyskalkulie werden häufig zum Teufelskreis (Symbolbild). Foto: Shutterstock

Polarfuchs 25. November 2021 um 23:12

Ich bin erschüttert, irritiert und traurig zugleich. Soweit ich gelesen habe, gab es hier bislang keinen Kollegen, der auch nur ansatzweise bei sich nach einem Anteil am Dilemma gesucht hat.

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Wir sind ein Lehrerpaar mit drei Kindern und haben darunter ein LRS-Kind. Unsere Kinder wachen bei weitem nicht bildungsfern auf, bekommen viel vorgelesen, hören Hörspiele, singen und reden viel, wir lernen Gedichte und Tischsprüche, die Kids lesen selbst, unser LRS-Kind schreibt sogar selbst Geschichten und war im Chor, wir haben von Anfang an auf richtige Schreibung geachtet, bis heute schon viel privat gefördert, 2 Jahre zudem die Lerntherapie besucht, dazu noch den wöchentlichen Förderunterricht in Deutsch und später Englisch, wenn der denn stattfand… Und dennoch, bestimmt Zweidrittel der Punkte in dem Artikel hier haben wir selbst erlebt.

Eine LRS ist keine Faulheitsdiagnose und wird doch oft von dem Lehrpersonal so interpretiert. Auch eine Empfehlung zum Schulwechsel mit einer aktuellen Durchschnittsnote von 2,5 ohne Notenschutz und ohne nennenswerten Nachteilsausgleich außer gelegentlichen 10 min mehr Zeit haben wir kürzlich erhalten, da die Schule dem Kind die zweite Fremdsprache nicht zutraut (Englischnote: 3). Unser LRS-Kind bekommt in allen Fächern die Rechtschreibung undifferenziert und vollwertig mit bewertet. Unter jeder Arbeit stehen ermahnende Worte bezüglich der abgelieferten Rechtschreibung, trotz jahresaktueller Diagnostik.

Es ist und bleibt ein Teufelskreis. LRS-Kinder brauchen viel länger beim Schreiben und Lesen, sind also bereits nach 15 min Unterricht einen Schritt hinterher, schaffen Tafelbilder nicht sauber und/oder komplett abzuschreiben, können dadurch oft nicht so viel mündlich mitarbeiten, verpassen zudem einen Teil der Ergebnissicherung, leisten damit insgesamt weniger Stoff ab, was wiederum zu neuen Diskrepanzen im Fortkommen führt. Sie müssen unglaublich viel mehr tun, um Schritt zu halten.

“Man spricht diesen Kindern oft schon in den ersten Schuljahren die Möglichkeit zum Abitur oder zu einem Studium ab”

Es sind aber nicht nur die Kinder, ihre Biografien, ihre Eltern und die Medien schuld am Dilemma. Es sind auch wir Lehrer und unsere mangelnde Differenzierung, Aufgaben so für LRS-Kinder zusammenzustellen, dass sie entweder mit weniger Wiederholungen die gleichen Informationen/Übungsinhalte bekommen (z.B. Mathe) oder mit weniger Text die gleichen Informationen erhalten (Fachtexte). Das passiert aber nicht. Man spricht diesen Kindern oft schon in den ersten Schuljahren die Möglichkeit zum Abitur oder zu einem Studium ab und fördert sie schon deshalb m. E. n. nicht ausreichend.

Und mal ehrlich, wer von euch kopiert in jeder Stunde und in jedem Fach für die LRS-Kinder die Texte größer oder fügt noch besser jeweils hinter jedem Buchstaben im Text ein Freilassungszeichen ein oder schreibt die Fachtexte noch einmal selbst zu Hause in vereinfachter Form auf? Wer lässt LRS-Kinder das Tafelbild abfotografieren oder stellt es nach der Stunde als Ausdruck zur Verfügung oder lässt ganz sicher stets Seite und Nummer über die anzufertigenden Lösungen schreiben, damit der noch offene Stoff vielleicht zu Hause beendet werden kann?

Es ist selbst für uns als Lehrereltern ein permanentes Laufen gegen eine Wand, weil Schule und Lehrer eben oft nicht flexibel genug, aber sehr wohl belastet genug sind, auf die Bedürfnisse von etwa jedem 10. Schüler angemessen einzugehen. Zitat der Sonderpädagogin der Schule unseres LRS-Kindes: „Kinder mit einer LRS müssen für ihre Noten eben einfach mehr tun als die restlichen Schüler. Das ist so und wird so bleiben.“ Das Zitat stammt aus einem Gespräch nach einer Englisch-Klassenarbeit, in der für jeden Fehler im Wort ein halber Punkt abgezogen wurde, z. B. gost statt ghost. Ist doch einfach unverschämt.

Es sind nicht die Autoren hier, die die Ursachen der LRS laufbahnentscheidend in einen Topf schmeißen, sondern eher die jeweiligen Lehrer, die durch ihr Tun und Lassen Biografien mitgestalten, um sich dann hinter den übrigen Faktoren (Fleiß, Motivation, Konzentration, Elternhaus etc.) zu verstecken. Es wird m. E. n. nicht wirklich genau geschaut und nicht wirklich genug differenziert. Da sind die Ursachen eigentlich egal, differenziert muss so oder so werden, ob nun auf Basis eines NTA oder eines rahmenlehrplangerechten Unterrichtes.

Unser LRS-Kind hat (theoretisch) einen Nachteilsausgleich, per Klassenkonferenz beschlossen, hat eine Diagnose und auch einen Paragraphen (§ 35a SGB VIII Eingliederungshilfe für Kinder und Jugendliche mit seelischer Behinderung oder drohender seelischer Behinderung). Dennoch bekommt er wie geschrieben in ALLEN Fächern die Rechtschreibung voll bewertet. Nachgehakt habe ich mehr als nur einmal, mit der Konsequenz, dass ich nun nur noch direkt mit der Schulleitung kommunizieren darf.

Es ist und bleibt das Laufen gegen die Wand. Die Klasse liest in Deutsch auch gerade den Krabat. In unserer Ausgabe etwas mehr als 270 Seiten. Es wird ein zügiges Lesetempo vorausgesetzt. Wo ist hier die Differenzierung? Es gibt einfach keine. Die Arbeitsaufträge sind für alle gleich. Letztlich haben wir die Autorenlesung als Leseunterstützung gekauft, aber ist es nicht eigentlich Aufgabe der Schule nachteilsausgleichende Angebote zu starten?

Und dann sei noch gesagt, nicht jeder Lernrückstand entsteht ausschließlich durch den (faulen) Schüler. Es ist mitunter nur nicht mehr nachvollziehbar, wie etwas entstand, wenn der Lehrer wechselt. Und wenn dann auch noch Frustration und Misserfolgsdenken dazugekommen sind, erhält der nächste Lehrer schnell das Bild, dass ein Schüler nur keine Lust hat sich anzustrengen. Was stehenbleibt ist das Unvermögen der Kinder.

“Wir Lehrer müssen mehr differenzieren, egal woher ein Mangel kommt”

Unser mittleres Kind ist gerade in der zweiten Klasse. Der Klassenlehrer fängt jetzt! mit den ersten Rechtschreibübungen überhaupt an und zwar indem er wöchentlich 10 Lernwörter als Hausaufgabe mit nach Hause gibt, die ohne jeden Zusammenhang zum Unterricht, zu aktuellen Ereignissen, der Jahreszeit o.ä. dem Alphabet entnommen werden. Wie will er denn jetzt noch schaffen, bis Ende 2. Klasse den verbindlichen Lernwortschatz aufzubauen? Mit Druck oder mit Aussagen, wie: „Wenn ihr das dreimal nicht schafft, müsst ihr zum Direktor?“ Unser mittleres Kind ist schlau und schnell und schafft das trotzdem. Aber was ist mit all den anderen Kindern, die aufgrund der Arbeitszeiten der Eltern lange im Hort sein müssen oder mitunter auch am Wochenende von anderen betreut werden, da die Eltern schichtig arbeiten, oder mit den Kindern von Alleinerziehenden, die sich per se vierteilen müssen, um alles zu schaffen…

Nein, ich bleib dabei. Wir Lehrer müssen mehr differenzieren, egal woher ein Mangel kommt. Wenn wir ausreichend differenzieren, werden sich Biographien ändern. Ein beratungsresistentes (faules) Kind wird faul bleiben, aber all die anderen, die den Nachteil nun einfach mal haben, sollten diesen auch ausgeglichen bekommen. Denke ich. News4teachers

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