BERLIN. 4.000, 5.000, in einigen Kommunen schon über 6.000: Die Inzidenzen bei Kindern und Jugendliche in Deutschland schießen ins Monströse. Angesichts des Tempos, mit dem sich die Omikron-Welle aufbaut, halten Wissenschaftler eine Durchseuchung der Schulen für unvermeidlich, wenn nicht sofort gegengesteuert wird. Das aber passiert nicht, obwohl der Bundesgesundheitsminister weiter davor warnt, die Kinder schutzlos dem Virus auszuliefern. Die Virologin Dr. med. Jana Schroeder beschreibt die Gefahren.
Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach warnte noch vergangene Woche im „heute journal“ davor, natürliche Infektionen als dauerhaften Ausweg aus der Pandemie zu sehen. „Diese Durchseuchung, die ich falsch finde – bei Kindern wie bei Erwachsenen – bringt keine Immunisierung“, so erklärte er. „Derjenige, der glaubt, dass er mit der Omikron-Infektion wenigstens danach geschützt ist vor weiteren Ansteckungen, der hat mit Zitronen gehandelt. Das ist definitiv falsch. Daher müssen wir Kinder schützen“, so Lauterbach weiter.
Angesichts der rasanten Entwicklung scheinen sogar Kinder-Inzidenzen über 10.000 nicht mehr ausgeschlossen
Dummerweise werden Kinder und Jugendliche in den Kitas und Schulen nicht geschützt. Die Kitas und Schulen sind weit offen, obwohl die Inzidenzen bei den Fünf- bis 14-Jährigen in die Tausende schießen. Die ersten vier Kommunen liegen jetzt bei Werten von über 6.000 in der Altersgruppe: der Landkreis Starnberg (Bayern) mit 6.091 Frankfurt/Main mit 6.274 der Landkreis Märkisch-Oderland (Brandenburg) mit 6.327 und die Stadt Remscheid (Nordrhein-Westfalen) sogar mit 6.796.
Angesichts der rasanten Entwicklung scheinen sogar Inzidenzen über 10.000 nicht mehr ausgeschlossen. Zahlreiche Städte und Landkreise in Deutschland haben mittlerweile bei den Kinder-Inzidenzen die Marke von 5.000 überschritten, darunter Wiesbaden (5.551), Schwerin (5.611), Kreis Borken, NRW (5.367), Dortmund (5.188) und Nürnberg (5.196).
„Wenn man eine Inzidenz von über 5.000 hat: Ja, das dauert nicht lang, bis sich diese Altersgruppe, ich sage mal, zu 80 bis 85 Prozent infiziert hat“, sagt Prof. Dr. Reinhold Förster vom Institut für Immunologie der Medizinischen Hochschule Hannover, gegenüber dem ZDF.
„Jeder in der Schule wird sich infizieren, das lässt sich, so scheint es, nicht mehr aufhalten. Was hier stattfindet, ist eine Durchseuchung der Kinder – die der heutige Gesundheitsminister Karl Lauterbach vor nicht allzu langer Zeit noch kategorisch ausgeschlossen hatte. Ich finde, das könnte man dann auch mal klar kommunizieren“, sagt Dr. med. Jana Schröder, , Chefärztin des Instituts für Krankenhaushygiene und Mikrobiologie im nordrhein-westfälischen Klinikverbund Stiftung Mathias-Spital, Essen, in einem Interview mit dem „Spiegel“. „Und wenn man das gegen die gesellschaftlichen Kosten eines Lockdowns aufwiegt, muss man ehrlicherweise dazusagen, dass wir für die Durchseuchung auch einen Preis zahlen werden.“
Kinder könnten das Pims-Syndrom bekommen. „Das ist eine schwere Krankheit. Eins von 5000 bis eins von 1000 infizierten Kindern bekommt es, mehr als 50 Prozent davon landen auf der Intensivstation. Durch die Impfung ist dies zwar bei allen bisherigen Varianten gut zu verhindern, aber ein niedriges Risiko ist nicht kein Risiko.“ Bei rund neun Millionen Kindern unter zwölf Jahren in Deutschland seien das grob gerechnet mindestens 2000 Kinder mit Pims. „Und dann gibt es natürlich noch Long Covid, eigentlich ein Sammelsurium verschiedener Erkrankungen als Folge einer Sars-CoV-2-Infektion, die auch Kinder zu einem niedrigen einstelligen Prozentsatz betreffen.“
Schroeder: „Mittlerweile gibt es sehr bedenkliche Hinweise in Studien mit kleinen Fallzahlen bei Kindern mit Long Covid, auffällige Veränderungen von Arealen im Gehirn. Und auch bei manchen Erwachsenen hat man festgestellt, dass deren Denkfähigkeit nach einer Infektion eingeschränkt war. Da ist es doch besser, von vornherein Infektionen zu verhindern oder durch Impfen abzumildern.“
Das Festhalten am Präsenzunterricht in der jetzigen Form habe viele Nachteile, so sagt die Medizinerin – und verweist auf ein Positionspapier, das sie und andere Ärzte gemeinsam mit Psychotherapeuten herausgegeben hat, wie News4teachers berichtet.
Tenor, so Schroeder: „Schule wirkt ja nur dann stabilisierend, wenn sie tatsächlich Bildung vermittelt, wenn sie die Kinder und Jugendlichen fördert und stärkt, wenn es eine Tagesstruktur gibt, einen stabilen Rhythmus. Und das bietet Schule im Moment nicht, allein schon durch die ständigen Infektionen und die Quarantänefälle. Familien geraten in Stress, Lehrkräfte müssen vertreten werden, und obendrauf kommt der Leistungsdruck, der ja weiterhin herrscht. Eine hohe Pandemiedynamik macht psychosozialen Stress, und je länger psychosozialer Stress andauert, desto mehr macht er psychisch und körperlich krank.“
„Gut geplanter Distanzunterricht ist besser als ein geöffnetes Schulgebäude, in dem der Präsenzunterricht dauernd ausfällt”
Kinder könnten besser in Schulen geschützt werden, dafür gebe es eine von Fachgesellschaften und vom Bundesbildungsministerium gemeinsam entwickelte S3-Leitlinie. Die wird nur leider in keinem Bundesland beachtet. Schroeder sagt mit Verweis auf die Leitlinie: „Man kann den Fernunterricht in Gang bringen, Klassen halbieren, kleine Gruppen bilden. Gut geplanter Distanzunterricht ist besser als ein geöffnetes Schulgebäude, in dem der Präsenzunterricht dauernd ausfällt. Zumal es dafür ja Konzepte gibt, nicht nur ich tingele seit mehr als einem Jahr damit herum. Klar, niemand muss auf mich hören, aber ich verstehe auch nicht, wie die Kultusminister das so lange aussitzen konnten. Statt auf der Präsenzpflicht zu beharren, sollte es eine Bildungspflicht geben.“
Ihr ernüchterndes Fazit: „Ich habe immer gedacht, irgendwie kommt man zu einer wenigstens grob richtigen Lösung, trotz unterschiedlicher parteipolitischer Standpunkte. Aber eine solch drastische Entkoppelung von Wissenschaft und politischem Handeln, das den Verlauf der Pandemie beeinflusst, hatte ich nicht erwartet.“ News4teachers