BERLIN. Mehr als drei Millionen Menschen sind nach UN-Angaben schon vor dem Krieg aus der Ukraine geflohen. Eine Taskforce soll sich in Deutschland nun darum kümmern, dass geflüchtete Kinder und Jugendliche möglichst reibungslos Schulbildung bekommen. Die ukrainische Generalkonsulin Iryna Tybinka lehnt eine Integration der Flüchtlingskinder ins deutsche Schulsystem allerdings ab – der Unterricht in der Ukraine sei intensiver. Die Schülerinnen und Schüler könnten online lernen.
Bildungspolitiker in den Ländern schätzen, dass etwa die Hälfte der in Deutschland ankommenden Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine Kinder und Jugendliche sind, die früher oder später in Schulen oder Kitas unterkommen. Es gebe bisher keine verlässlichen Daten, sagte der Chef der neuen Taskforce der Kultusministerkonferenz (KMK) für das Thema, Hans Beckmann (SPD). Beim ersten Treffen der Expertengruppe am Freitag hätten Ländervertreter aber eine solche Schätzung abgegeben. Er kündigte Abfragen in den Schulen an.
Die Taskforce mit Vertretern aus allen 16 Bundesländern war von der KMK eingesetzt worden, um die Aufnahme und den Schulbesuch ukrainischer Kinder und Jugendlicher bundesweit abzustimmen. Nach Angaben Beckmanns müssten sie «schnell in feste Strukturen kommen». Es gehe beispielsweise darum, dass Jugendliche, die jetzt in der Ukraine vor der Abschlussprüfung stünden, diese Prüfung auch machen könnten, außerdem um Online-Lehrmaterial und die Gewinnung ukrainischer Lehrkräfte, Erzieherinnen und Erzieher. Die schleswig-holsteinische Bildungsministerin und KMK-Präsidentin Karin Prien (CDU) hatte auch von mehr Schulsozialarbeitern und Psychologen gesprochen.
Seit Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine sind nach offiziellen Zahlen etwa 200.000 Kriegsflüchtlinge von dort nach Deutschland gekommen. Die meisten sind Frauen und Kinder. Erfasst werden allerdings nur diejenigen, die von der Bundespolizei angetroffen werden, etwa an Bahnhöfen oder in Zügen.
“Wir müssen diesen Kindern helfen. Die haben teilweise so schreckliche Sachen erlebt und brauchen jetzt feste Strukturen”
Beckmann zeigte sich optimistisch, dass das deutsche Bildungssystem die Aufgabe gut bewältigen wird. Es werde nicht alles reibungslos laufen. Aber alle Beteiligten hätten großes Interesse, im Sinne der Kinder gute Lösungen zu finden. «Wir müssen diesen Kindern helfen. Die haben teilweise so schreckliche Sachen erlebt und brauchen jetzt feste Strukturen. Sie brauchen die Möglichkeit, mit anderen Kindern zu spielen, sich auszutauschen.» Es seien auch traumatisierte Kinder dabei, die eine Zeit bräuchten, bis sie überhaupt in die Schule könnten. Denen müsse man vor Ort ebenfalls Angebote machen.
Die ukrainische Generalkonsulin Iryna Tybinka hatte kürzlich an die Kultusminister appelliert, auf eine Kontinuität der Bildungsprozesse und ein Aufrechterhalten der nationalen Identität ukrainischer Kinder zu achten. Willkommensklassen lehnte sie ab. Es gehe um einen vorübergehenden Aufenthalt in Deutschland. Daher müsse man jetzt für eine Kontinuität des Unterrichts sorgen, damit die Geflüchteten ihr Schuljahr abschließen und – in den höheren Klassen – ihre Abschlüsse machen könnten. Der Unterricht in der Ukraine sei «intensiver, vollzieht sich in kürzerer Zeit als in Deutschland und hat ebenso höhere Anforderungen», betonte Tybinka laut einem Bericht des “Tagesspiegel”.
Die Konsulin schlug vor, die Kinder über die digitale Plattform e-school.net.ua, die zu Pandemiezeiten aufgebaut wurde, zu beschulen und sehr stark auf den Einsatz von ukrainischen Lehrkräften zu setzen, die zusammen mit den Kindern geflüchtet seien. «Die sogenannten Integrationsklassen würden für die ukrainischen Kinder eine Wand des Unverständnisses, das Gefühl der Minderwertigkeit und des geringen sozialen Schutzes bedeuten», erklärte sie.
Sie beklagte zudem, dass die Ukraine bisher im deutschen Geschichtsunterricht keine Rolle spiele. Sie sprach von «einem weißen Fleck im Wissen der deutschen Gesellschaft», der auch dazu führe, dass die Politiker in Deutschland bisher zu zögerlich auf Invasion Russlands reagierten. «In Deutschlands Lehrplänen und Richtlinien dominiert nach wie vor Russland und russischer Imperialismus. Daher stammen auch die Neigungen und das Bestreben vieler Menschen in Deutschland, Russland zu verstehen, Russlands Verbrechen zu rechtfertigen, aber auch die Angst davor, Russland irgendwie zu kränken. All das, was wir bereits vor dem Krieg gespürt haben, hält immer noch viele in Deutschland davor zurück, angemessen und in voller Entschlossenheit auf die Aggression Russlands zu reagieren.»
«Wir wünschen uns ja alle, dass dieser schreckliche Krieg bald vorbei ist. Und dass alle ukrainischen Familien, die das möchten, wieder zurückgehen können. Aber wie lange das dauert, weiß niemand», sagte Beckmann. Seinen Angaben zufolge geht es um beides: «Einerseits darum, dass die Kinder, wenn sie in unsere Schulen kommen, integriert werden.» Sie sollten mit anderen Kindern interagieren, sich wohl und willkommen fühlen, aber auch die Möglichkeit haben, ihre ukrainische Identität zu bewahren und verpassten Unterrichtsstoff aus der Ukraine nachzuholen.
“Ich bin zuversichtlich, dass wir, wenn wir die unterschiedlichen Kanäle nutzen, auch Personal gewinnen können”
Viel wird davon abhängen, wie lange der Krieg dauert und auch, wo und wie die Kinder unterkommen. Beckmann verwies auf ein Beispiel aus Rheinland-Pfalz, wo zwei Kinder in die erste Klasse einer kleinen Schule gekommen seien. «Die lernen so schnell Deutsch, das kann man sich kaum vorstellen.» Anderswo, etwa in großen Städten, würden reine ukrainische Lerngruppen oder Willkommensklassen gebildet, weil es viele Kinder seien. Bei der Gewinnung ukrainischer Lehrkräfte müssten alle Möglichkeiten, die es gebe, genutzt werden: Soziale Medien, Instagram, Facebook, ukrainische Vereine. «Die ukrainische Community ist sehr gut vernetzt. Ich bin zuversichtlich, dass wir, wenn wir die unterschiedlichen Kanäle nutzen, auch Personal gewinnen können.» News4teachers / mit Material der dpa
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