MANNHEIM. Realschulen, oft despektierlich als Sandwichschulen bezeichnet, sind die Bildungsstätten der Zukunft – meint jedenfalls der Verband Deutscher Realschullehrer (VDR), der sich nun zu seinem Jahreskongress traf. Der wiedergewählte VDR-Bundesvorsitzende Böhm bezeichnete integrative Schulen hingegen als „gescheiterte Schulstrukturexperimente“. Prompt gab’s dazu Widerspruch.
Eltern können ihren Kindern nach Ansicht des Realschullehrerverbandes viel Frust ersparen, wenn sie ihren praktisch begabten Nachwuchs nicht zum Besuch eines Gymnasiums zwingen. Mütter und Väter müssten einen realistischen Blick auf ihr Kind werfen, betonte Verbandschef Jürgen Böhm anlässlich des 25. Bundesrealschultages (VDR) in Mannheim.
«Es gibt keinen Königsweg der Bildung, die Kinder sollen den Bildungsweg einschlagen dürfen, auf dem ihre Talente am besten gefördert werden», sagte er. Sonst schwinde die Motivation. Die Realschule mit ihrer Mischung aus Theorie und Praxis sei eine Alternative zum Gymnasium.
Die Delegierten seien sich einig, dass Schulstrukturexperimente gescheitert seien. Bildungsreformen hätten die individuelle Freiheit und die Persönlichkeitsentwicklung der jungen Menschen vernachlässigt, Fehlanreize gesetzt, Schulabschlüsse entwertet und Bildungszeiten unnötig in die Länge gezogen, so heißt es in einer Pressemitteilung des Verbands.
In einem differenzierten Bildungssystem gebe es kein Oben und Unten, so Böhm, sondern ein Nebeneinander von den Abschlüssen an Hauptschulen, Realschulen und Gymnasien. In Deutschland sei noch immer die Mittlere Reife der am meisten vergebene Schulabschluss. «Wir wünschen uns eine Renaissance der Realschulen», sagte der VDR-Chef mit Blick auf viele Bundesländer, in denen diese Schulart nur noch ein Schattendasein führt oder gar nicht existiert.
Die meisten Realschulen gibt es nach seinen Angaben in Nordrhein–Westfalen (500), Bayern (375) und Baden-Württemberg (410). Im Südwesten ist ihnen in Form der Gemeinschaftschule Konkurrenz erwachsen. Von diesen hauptsächlich aus Haupt- und Werkrealschulen entwickelten Schulen gibt es heute über 300. Nach Worten Böhms sind solche integrativen Schularten gescheiterte «Schulstrukturexperimente» auf Kosten der individuellen Freiheit und Persönlichkeitsentwicklung der jungen Menschen.
«40 bis 50 Prozent der Studierenden kommen nicht mehr über das klassische Gymnasium»
Dies weist der Sprecher der Arbeitsgemeinschaft der Gemeinschaftschulen Matthias Wagner-Uhl weit von sich. Im internationalen Vergleich seien integrative Schulsysteme den gegliederten überlegen. Die Abschlüsse auf der Gemeinschaftschule lägen auf dem Niveau der Realschulen, und das, obwohl deutlich mehr Kinder mit einer Hauptschulempfehlung die Schulbank drückten. Den Übergang auf die beruflichen Gymnasien schafften die Absolventen problemlos. Zudem fördere die «Schule für alle» den gesellschaftlichen Zusammenhalt.
Für VDR-Chef Böhm ist vor allem die Verbundenheit der Realschulen mit der Wirtschaft von Vorteil. Mit ihren Fächer Technik, Wirtschaft, Gesundheit/Ernährung und Soziales trügen sie dem Fachkräftebedarf der Unternehmen Rechnung. Für viele junge Menschen sei die Mittlere Reife über die beruflichen Gymnasien das Sprungbrett zum Studium. Böhm: «40 bis 50 Prozent der Studierenden kommen nicht mehr über das klassische Gymnasium.» Im VDR sind 25.000 Lehrkräfte organisiert.
Im Rahmen der VDR-Delegiertentagung fanden auch Neuwahlen des Verbandes statt. Jürgen Böhm wurde als Bundesvorsitzender bestätigt. Als stellvertretende Vorsitzende wurden Bernd Bischoff aus Bayern, Sven Christoffer aus Nordrhein-Westfalen und Dirk Meußer aus Schleswig-Holstein gewählt. Neuer Schatzmeister wurde Ingo Lürbke (Nordrhein-Westfalen). Waltraud Eder aus Bayern erhielt weiterhin das Vertrauen für die Aufgaben der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit und kümmert sich fortan auch um die Verbandszeitschrift. Gewählte Schriftführerin ist Anna Katharina Müller aus Sachsen-Anhalt.
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