BERLIN. Die – ohnehin dürftigen – Corona-Schutzmaßnahmen in Schulen fallen in diesen Tagen fast vollständig. Zeit für eine Bilanz: Wie haben die Kultusminister die Bildungseinrichtungen durch die Corona-Krise geführt? In den ersten beiden Teilen unserer Abrechnung haben wir uns unter anderem mit der Wissenschaftsferne und der fehlende Linie der verantwortlichen Politiker beschäftigt. Heute, zum Abschluss, geht’s um Luftfilter, die Kitas – und die Frage, wie denn jetzt die Lernlücken aufgeholt werden sollen. Das Fazit vorweg: Sollte das Infektionsgeschehen in Deutschland im Herbst wieder aufflammen, droht den Schulen erneut ein schlimmer Winter.
- Hier geht es zum ersten Teil unserer Corona-Bilanz.
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5. Versäumnis: Die flächendeckende Ausstattung der Kitas und Schulen mit mobilen Luftfiltern wurde nie ernsthaft erwogen.
Schon ab Mai 2020 war bekannt, dass Corona-belastete Aerosole eine Hauptverbreitungsquelle für das Virus sind. Konsequenzen? Zunächst keine. Erst im Oktober 2020, kurz vor Herbstanfang also, veranstaltete die KMK eine Expertentagung zum Thema Lüften. Der dort von dem Aerosol-Forscher Prof. Dr. Christian Kähler vorgetragene Bericht über die Wirkung von mobilen Luftfiltern in Klassenräumen, die er untersucht hatte, wurde ignoriert – und aktiv vertuscht: Eine Pressemitteilung im Anschluss erweckte den Eindruck, als hätten sich alle Expertinnen und Experten allein für Fensterlüftung ausgesprochen – was eben nicht stimmte. Mindestens ein dreiviertel Jahr lang wussten die Kultusminister, dass mobile Luftfilter den Schulbetrieb sicherer machen – und haben immer wieder das Gegenteil behauptet.
Die Folge: Es wurde viel zu spät damit begonnen, in Luftfilter zu investieren – und es wurde viel zu wenig Geld dafür in die Hand genommen. Die Verantwortung für die Anschaffung der Geräte wurde zudem hin und her geschoben zwischen Bund, Ländern und den Kommunen als Schulträgern. Lediglich Hamburg und Bremen sowie – mit Abstrichen – Bayern und Berlin haben einen Großteil ihrer Schulen mit Luftfiltern ausgestattet; Kitas blieben praktisch überall außen vor. Das eigens aufgelegte Investitionsprogramm des Bundes floppte: Die Beschränkung der Förderung auf Klassenräume, die sich nicht ausreichend belüften lassen (und deshalb ohnehin nicht für den Unterricht geeignet sind), erwies sich als kontraproduktiv.
Den Grund für die Untätigkeit der meisten Bundesländer machte die nordrhein-westfälische Schulministerin Yvonne Gebauer (FDP) bereits im August 2020 deutlich: Luftfilter in Klassenräumen gegen das Coronavirus seien zwar eine gute Lösung – aber: leider zu teuer. Die Geräte würden bei rund 3000 Euro Kosten pro Klasse «Unsummen verschlingen», meinte sie.
Tatsächlich käme damit auf jede Schülerin und jeden Schüler eine Investition von rund 100 Euro. Zum Vergleich: Die Kosten der Krise für Deutschland insgesamt werden auf mittlerweile mehr als 500 Milliarden Euro geschätzt. Die Ausstattung der Schulen mit mobilen Luftfiltern, die womöglich das Infektionsgeschehen eingedämmt und so viel von dem materiellen Schaden verhindert hätte, wird auf eine Milliarde taxiert. Dass aber Geld genug vorhanden war, um Politikerinnen und Politiker mit Luftfiltern vor Ansteckungen zu schützen, sei hier nur am Rande erwähnt: Im Düsseldorfer Landtag beispielsweise wurden zum Corona-Schutz 41 Luftfilteranlagen platziert. 21 wurden von der Landtagsverwaltung bestellt, um sie unter anderem am Besuchereingang, an Aufzügen und in der Wandelhalle zu postieren. Zudem hatte die Landtagsverwaltung den Fraktionen angeboten, auch für deren Bereiche Geräte zu besorgen. Dadurch kamen noch mal 20 Luftfilter dazu.
Die Konsequenz: Schülerinnen und Schüler sowie Lehrkräfte mussten bereits im zweiten Winter bei Temperaturen in Klassenräumen arbeiten, die von der Arbeitsschutzverordnung nicht gedeckt sind. Kolleginnen und Kollegen berichteten von Temperaturen bis hinunter auf 14, sogar zwölf Grad.
6. Versäumnis: Kitas wurden beim Corona-Schutz praktisch völlig außen vor gelassen.
Die Zahl bekannter Corona-Infektionen bei Kindergarten-Kindern in Nordrhein-Westfalen hatte sich binnen einer Woche mehr als verdoppelt – binnen zwei Wochen sogar versiebenfacht. Mit Stand 22. November 2021 berichtete das NRW-Familienministerium von 1096 gemeldeten Infektionen. In der Vorwoche waren es erst 504, in der Woche davor sogar nur 146 Kinder gewesen. Auch die Zahl infizierter Kita-Mitarbeiter hatte sich in nur einer Woche mehr als verdoppelt – und in zwei Wochen verfünffacht. Aktuell wurden 808 gemeldet, in der Vorwoche waren es 369, in der Woche davor 143.
Die Entwicklung war deutlich – die genannten absoluten Zahlen sind allerdings sehr mit Vorsicht zu betrachten. Der Wochenbericht des Robert-Koch-Instituts wies Ende November bundesweit für Null- bis Vierjährige eine unterdurchschnittliche Inzidenz von 175 aus – bei der nächsthöheren Altersgruppe, den Grundschülern, stand dagegen ein Rekordwert von 625.
Der Unterschied liegt aber wohl nicht darin begründet, dass sich Kita-Kinder seltener infizieren – und auch nicht daran., dass es einen besonderen Infektionsschutz in Kitas gäbe. Den gibt es tatsächlich nicht. Vielmehr gilt: „Bei der Inzidenz der 0- bis 4-Jährigen ist zu beachten, dass im Gegensatz zu Schulkindern in keinem Bundesland eine Testpflicht für Kitakinder besteht, sodass hier von einer größeren Untererfassung ausgegangen werden muss“, so heißt es beim RKI. Altersgerechte Testkonzepte würden von den Bundesländern insbesondere in Kitas oft nur unzureichend eingeführt, heißt es in einem Bericht. Systematische wissenschaftliche Stichproben, die ein Bild vom tatsächlichen Ausbruchsgeschehen in Kitas hätten geben können, wurden von den Familienministerien nie beauftragt. Offenbar gab es dafür kein politisches Interesse.
Umso größer war das Interesse an geöffneten Kitas: Selbst während des Lockdowns im Frühjahr 2021 gab es in Nordrhein-Westfalen beispielsweise lediglich einen Appell der Landesregierung an die Eltern, ihre Kinder möglichst zu Hause zu lassen. Die Untererfassung des Infektionsgeschehens erklärt auch, warum sich lokale Meldungen über Ausbrüche in Kitas häuften, ohne dass dies in den Statistiken sonderlich auffiel. Im sächsischen Landkreis Leipzig – einem Corona-Hotspot – beispielsweise verhängte das örtliche Gesundheitsamt angesichts der Vielzahl von Corona-Fällen in Kindertagesstätten nicht mal mehr Quarantäne.
Das hatte allerdings Folgen – für die Beschäftigten. Nur in der Altenpflege waren zwischenzeitlich mehr Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter am Coronavirus erkrankt wie die Berufsgruppe ErzieherInnen/SozialarbeiterInnen, die mit den Beschäftigten in Gesundheitsberufen gleichauf lagen. Dies ging aus einem Branchenvergleich der Barmer Ersatzkasse vom Februar 2021 hervor.
Eine Erhebung der AOK hatte die Gefährdung von Kita-Beschäftigte zuvor erkennen lassen. Danach waren sie von März bis Oktober 2020 am stärksten von Krankschreibungen im Zusammenhang mit Covid-19 betroffen. Eine Analyse der Arbeitsunfähigkeitsdaten der AOK-Mitglieder durch das Wissenschaftliche Institut der AOK (WIdO) zeigte, dass in diesem Zeitraum 2.672 je 100.000 Beschäftigte in dieser Berufsgruppe krankheitsbedingt im Zusammenhang mit Covid-19 an ihrem Arbeitsplatz fehlten. Damit lag deren Betroffenheit mehr als das 2,2-fache über dem Durchschnittswert von 1.183 Betroffenen je 100.000 AOK-versicherte Beschäftigte.
Die Konsequenz: Corona-Erkrankungen von Erzieher*innen können als Berufskrankheit anerkannt werden. „Kindertagesstätten zählen als Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe im Sinne des SGB VIII zu den Einrichtungen der Wohlfahrtspflege. Erzieherinnen und Erzieher werden in diesen Einrichtungen somit unmittelbar von der BK-Nr. 3101 erfasst, ohne dass es einer entsprechenden Erweiterung bedarf. Schulen zählen dagegen nicht zu den im SGB VIII genannten Einrichtungen“, so heißt es bei der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (DGUV).
7. Versäumnis: Eine wirkungsvolle Strategie, um die Schäden der Coronakrise aufzuholen, ist nicht erkennbar
Dass die Kultusministerinnen und Kultusminister den Regelunterricht in der Krise zum Dogma erhoben haben, führt zu einem grundsätzlichen Problem: der Erwartung von Elternschaft und Öffentlichkeit nämlich, dass Unterricht auch wie im Regelbetrieb stattfinden kann. Das ist allerdings nicht der Fall. Die Störungen des Unterrichts vom zeitraubenden Testen bis hin zu den zahlreichen Quarantänefällen unter Schüler*innen und Lehrkräften ist weit vom Normalbetrieb einer Schule entfernt. Der Bayerische Lehrer- und Lehrerinnenverband (BLLV) hat unlängst gefordert, die Erwartungen an das Schuljahr und die Leistung der Schüler*innen herunterzuschrauben. Das ist in keinem Bundesland bislang passiert. Die Lehrpläne gelten uneingeschränkt weiter. So wird der Notendruck hochgehalten, was die Belastungssituation insbesondere für die Schüler*innen – die ohnehin schon durch die Angst vor Ansteckungen belastet sind – weiter verschärft.
Auch die „Aufholprogramme“ von Bund und Ländern halten nicht das, was sie versprechen. Beispiel Baden-Württemberg: Mit dem Förderprogramm „Lernen mit Rückenwind“ versucht das Land seit den Herbstferien, die klaffenden Corona-Lücken im Schulunterricht zu stopfen. Im Rahmen des Programms können einzelne Schüler*innen zum Beispiel durch externe Unterstützungskräfte im normalen Unterricht und durch eine engere Betreuung zusätzlich gefördert werden – theoretisch. Auch gesonderter Förderunterricht für kleine Gruppen in Extra-Schulstunden soll möglich sein. Zudem gibt es Bildungsgutscheine, die Schülerinnen und Schüler etwa bei einem Nachhilfe-Institut einlösen können.
Von dem grundsätzlichen Problem, dass der Staat Geld für private Nachhilfe ausgibt, statt die Schulen personell besser auszustatten, mal abgesehen: Lehrkräfte und Schulleitungen sehen sich nach einer Umfrage des VBE durch das Förderprogramm zusätzlich belastet. Die große Mehrheit von 60 Prozent der Schulleitungen sagt, dass „Lernen mit Rückenwind“ für die Lehrkräfte mit erheblicher Mehrarbeit verbunden ist. So müssen Personen angeworben und eingearbeitet, die Materialien beschafft und Kurse geplant werden. Schulleitungen wird nicht mal die Zeit eingeräumt, um Maßnahmen planen und koordinieren zu können. „Viele Schulen verfügen schon zu Normalzeiten nicht über das nötige Personal, um den Pflichtunterricht stemmen zu können. In Krisenzeiten jedoch verfügen sie nicht ansatzweise über die nötigen Reserven und Ressourcen, um etwaige Zusatzbelastungen auffangen zu können“, so stellte der VBE-Landesvorsitzende Gerhard Brand fest.
Die Folge: Zahlreiche Schulen beteiligten sich gar nicht an dem „Aufholprogramm“. News4teachers
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Eine Bildungspolitik, die die Schulen langfristig krisenfest machen würde? Wäre möglich – meint jedenfalls der Lehrerverband VBE. Seine 16 Landesverbände haben ihre Erfahrungen und Expertise in “12 Lehren aus Corona” zusammengefasst. “Nach zwei Jahren wissen wir, was unbedingt beachtet werden muss und welche Maßnahmen erforderlich sind.“
Im Wortlaut fordert der VBE:
- „Die Politik muss für alle an Schule Beteiligten transparent und nachvollziehbar machen, auf welcher wissenschaftlichen Basis sie welche Entscheidungen getroffen hat!
- Die Politik muss bei ihren Entscheidungen die Lebens- und Schulrealität besser beachten. Dafür müssen auch die Interessenvertretungen von Eltern, Schülerinnen und Schüler und Lehrkräften in die Beratungen einbezogen werden, bevor Maßnahmen festgelegt werden!
- Die Politik muss transparente Stufenpläne auf der Basis bundeseinheitlicher Kriterien entwickeln, welche Maßnahmen bei welchem Infektionsgeschehen zu ergreifen sind!
- Die Politik muss Sorge dafür tragen, dass Vorgaben aus den Ministerien mit realistischem Vorlauf an die Schulen gegeben werden!
- Die Politik muss in den Schulen einen bestmöglichen Gesundheitsschutz gewährleisten, wo erforderlich auch durch den Einsatz technischer Geräte, um Präsenzunterricht zu ermöglichen!
- Die Politik muss dafür Sorge tragen, dass Lehrkräfte nur für das eingesetzt werden, für das sie ausgebildet sind!
- Die Politik muss die Leistung der Lehrkräfte anerkennen und sich schützend vor sie stellen.
- Die Politik muss Kompetenzen der Schülerinnen und Schüler anerkennen, statt sich nur auf kognitive Leistung zu fokussieren.
- Die Politik muss das Bildungssystem dauerhaft mit Ressourcen ausstatten, sodass eine individuelle Förderung möglich wird. Sie muss zudem wirkungsvolle Strategien entwickeln, um pandemiebedingte kognitive und sozial-emotionale Defizite bei Kindern und Jugendlichen nachhaltig auszugleichen. Eine bessere Ausstattung mit Lehrkräften und multiprofessionellen Teams ist dafür unabdingbar.
- Die Politik muss sicherstellen, dass dem Ausstattungsschub mit digitalen Endgeräten echte Innovation beim Lehren und Lernen folgt.
- Die Politik muss das Kooperationsverbot durch eine in der Verfassung verankerte Verantwortungsgemeinschaft von Bund, Ländern und Kommunen ersetzen, um mehr Bildungsgerechtigkeit unabhängig vom Wohnort und sozioökonomischen Hintergrund der Schülerinnen und Schüler gewährleisten zu können.
- Die Politik muss dafür sorgen, dass so in Schulbauten investiert wird, dass in ihnen zeitgemäßes Lernen, Lehren und Schulleben zu jeder Zeit sicher möglich ist.“