DÜSSELDORF. Haben sich Kinder verändert? Tun sie sich heute schwerer damit, Regeln zu akzeptieren? Und: Zeigt sich darin womöglich ein Grundübel unserer Gesellschaft, nämlich dass sich Eltern nicht mehr ausreichend um ihren Nachwuchs kümmern – und die Erziehungsarbeit zunehmend den Bildungseinrichtungen überlassen? Kita-Fachkraft und News4teachers-Leserin Marion hat mit einem Post im Diskussionsforum unserer Seite eine bundesweite Debatte angestoßen, die wir an dieser Stelle gerne fortführen möchten. Sie hat nämlich auf die Kritik reagiert, lediglich rückwärtsgewandt zu argumentieren und frühere Probleme zu sentimentalisieren. Wir dokumentieren ihre neuen Statements hier noch einmal prominent.
Nein, früher war tatsächlich nicht alles besser. Früher wurden Menschen, die nicht der gängigen Norm entsprachen, ausgegrenzt, verurteilt und missachtet. Da sind wir heute, Gott sei Dank, schon viel weiter. Während man früher von Kindern einseitig Respekt und Gehorsam einforderte, nimmt man sie heute viel stärker als eigenständige, komplexe Persönlichkeiten wahr, deren Wünsche und Bedürfnisse selbstverständlich gehört und berücksichtigt werden müssen.
Das ist gut und richtig so. Ich wünsche mir auf keinen Fall Zeiten zurück, wo man glaubte Kindern mit Drill, Strenge und sogar körperlicher „Züchtigung“, sog. Benehmen einzutrichtern. Heute schlägt das Pendel aber völlig in die andere Richtung aus. Da „schrillen schon die Alarmglocken“, wenn man nur äußert, dass man das Einhalten selbstverständlicher Umgangsregeln im Kitaalltag für wichtig hält.
Das heißt aber doch nicht, dass wir unseren Kindern diese Regeln mit „dem Rohrstock einprügeln“. Natürlich werden Regeln mit den Kindern besprochen und ihnen auch erklärt. Und natürlich gab es schon immer Kinder, die sich damit schwer taten. Dann musste man Wege finden, diese Kinder ins Gruppen- und Alltagsgeschehen zu integrieren, was meistens auch gelang, weil es eben Einzelfälle waren.
Heute wird es jedoch schon als „bedenklich“ eingestuft, Kindern überhaupt Grenzen aufzuzeigen. Und wahrscheinlich schrillen jetzt bei dem einen oder anderen schon wieder die Alarmglocken, weil ich von „Grenzen aufzeigen“ spreche. Aber Grenzen haben wir doch alle.
Die Kinder vor 20 Jahren waren längst keine „gedrillten“ unterdrückten Wesen mehr. Wir lebten auch damals schon im 21. Jahrhundert
Sowohl die Kinder als auch wir Erwachsene. Ich glaube Kinder wollen auch wissen, wann unsere Grenze erreicht ist. Das testen sie immer wieder aus. Wenn ich ihnen nun niemals deutlich vermittelt habe, wo meine Grenze ist, werden sie sie auch nicht erkennen und deshalb immer wieder überschreiten. Das ist genau das, was ich heute im Umgang von Eltern und Kindern miteinander beobachte. Eltern werden als „blöde Mama o. blöder Papa“ beschimpft, und sie lächeln nur milde. Es ist normal, dass Kinder so etwas mal sagen, wenn sie wütend sind. Aber es muss doch auch erlaubt sein, ihnen klarzumachen, dass es nicht in Ordnung ist. Genauso wichtig finde ich es, dass Kinder Kritik an uns Erwachsenen üben dürfen und dass auch wir bereit sind, eigene Fehler einzugestehen und uns dafür zu entschuldigen. Ich halte das mit dem Respekt ja keineswegs für eine Einbahnstraße.
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Was die Arbeit von vor 20 Jahren betrifft, möchte ich betonen, dass es selbstverständlich auch damals nicht einfach oder angenehm war, wenn man 25 Kinder alleine zu betreuen hatte. Und auch damals hätte man sich in solchen Situationen mehr Personal gewünscht. Aber es war über einen kurzen Zeitraum doch noch irgendwie zu bewältigen, während ich es heute strikt ablehnen würde, so zu arbeiten. Übrigens waren die Kinder vor 20 Jahren längst keine „gedrillten“ unterdrückten Wesen mehr. Wir lebten auch damals schon im 21. Jahrhundert. Die Zeit der „schwarzen Pädagogik“ war da schon lange vorbei. Selbst in meiner eigenen Kindheit (70er Jahre) war nicht mehr viel von Drill und Zwang zu absolutem Gehorsam zu spüren.
Ich mache auch nicht die Kinder für mehr Stress in meinem Beruf verantwortlich, und zum Essen wurde bei uns noch kein Kind gezwungen. Wir pflegen in unserer Einrichtung eine wertschätzende, freundliche und offene Haltung jedem Kind gegenüber.
Trotzdem gibt es in dem komplexen Gefüge einer Kita bestimmte Regeln und immer wiederkehrende Abläufe, an die sich alle im Großen und Ganzen halten müssen, um kein völliges Chaos aufkommen zu lassen. (Natürlich kann man auch immer wieder mal über Ausnahmen von der Regel verhandeln.) Ich finde nicht, dass das irgendetwas mit Drill oder einer negativen Haltung autonomen Kindern gegenüber zu tun hat. Im Gegenteil – ich finde, das hat etwas mit gegenseitigem Respekt zu tun.
Ich plädiere ja gerade für mehr Autonomie und Freiheit für Kinder, aber in unserem derzeitigen Erziehungs- und Bildungssystem, das fast ausschließlich auf institutionelle Betreuung setzt, ist dafür nur sehr wenig Platz.
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Ich habe jetzt bereits in mehreren Antworten auf Kommentare zu meinem Text, versucht, meinen Standpunkt nochmal zu erklären. Hier der letzte:
Ich sehne weder frühere Zeiten herbei, noch erwarte ich von Frauen sich wieder in die Kittelschürze zu werfen und hinter dem Herd zu verschwinden. Ich erwarte von Kindern keinen bedingungslosen Gehorsam und ich versuche auch nicht, ihnen Regeln einzutrichtern indem ich rumbrülle oder den Rohrstock schwinge. Mein Text dreht sich um so viel mehr. Aber ich habe den Eindruck, hier wird sich nur auf ein Thema gestürzt: Kinder und Regeln.
Ja, ich finde, dass Kinder sich damit schwerer tun als noch vor 10 bis 20 Jahren. Ich sehe auch Unterschiede zwischen Stadt – und Landkindergärten. Das liegt wahrscheinlich daran, dass die hintlerwäldlerische Landbevölkerung ihre Kinder immer noch täglich mit dem Rohrstock verprügelt. (Achtung, Ironie!)
Warum, glauben sie, ist der Erzieherberuf für viele inzwischen so unattraktiv geworden?
Ich habe übrigens einen sehr guten Draht zu „meinen“ Kindern. Wir freuen uns gegenseitig immer sehr, wenn wir uns sehen. Die Arbeit mit ihnen macht mir auch immer noch Freude. Trotzdem nehme ich wahr, das viele kleine Alltäglichkeiten, die früher, (schon wieder dieses furchtbare Wort), ganz selbstverständlich funktioniert haben, heute wesentlich schwieriger zu bewältigen sind und mehr Zeit und Energie erfordern und das in einem Beruf, in dem eh schon viele am Leistungslimit angekommen sind. Dafür mache ich aber nicht allein die Eltern und schon gar nicht die Kinder verantwortlich. Es ist eine Entwicklung, die die ganze Gesellschaft betrifft.
Ich habe auch geschrieben, dass mir persönlich es so geht. Wenn Sie und andere Kommentierende hier das anders sehen, ist das völlig ok. Es ist aber kein Grund mir zu unterstellen, ich wäre rückständig und könnte nicht mit autonomen Kindern umgehen oder mir gleich komplett die nötige Kompetenz für meinen Beruf abzusprechen. Selbst Sie müssten doch inzwischen gemerkt haben, dass im öffentlichen Kita-Betreuungssystem die Hütte brennt. Es gibt nicht mehr genug Personal, um den Vollzeitbetreuungsanspruch für Kinder ab einem Jahr aufrechtzuerhalten. Warum, glauben sie, ist der Erzieherberuf für viele inzwischen so unattraktiv geworden? Nur wegen dem Geld? Das glaube ich nicht. Ich tausche mich durchaus auch mit Kolleginnen aus. Ich bin nicht die einzige, die Veränderungen im Verhalten der Kinder wahrnimmt.
Es brauchen ja auch immer mehr Kinder zusätzliche Fördermaßnahmen von außen in Form von Frühförderung, Logopädie, Ergotherapie etc., etc. oder die Eltern suchen verstärkt nach Unterstützung durch Erziehungsberatungsstellen u. Ä. Der Betreuungsaufwand in den Kitas ist jedenfalls enorm gestiegen. Dazu kommen natürlich auch noch vermehrt bürokratische Aufgaben, wie z.B . das Erstellen aufwendiger Entwicklungsbögen für jedes einzelne Kind.
Wenn es aber immer höheren Bedarf an öffentlichen Betreuungsplätzen gibt plus höhere Ansprüche in Bezug auf frühkindliche Bildung und Erziehung, gleichzeitig aber immer weniger Menschen, die diesen Beruf ausüben wollen, wie soll das dann genau funktionieren? Wer soll, verdammt noch mal, all die Kinder betreuen, bilden und bedürfnisorientiert erziehen, wenn nicht mehr genug Personal da ist? Kosten soll der Kindergarten am besten ja auch nichts mehr.
Ich fasse das mal zusammen: Kinder sollen ab dem ersten Lebensjahr möglichst flächendeckend Vollzeit in öffentlichen Betreuungseinrichtungen von hochqualifiziertem Personal betreut werden. Sie sollen bedürfnisorientiert erzogen und bestens gebildet werden, ein jedes nach seinen individuellen Interessen und Fähigkeiten.Die Einrichtungen sollen top ausgestattet und am besten nicht nur Kitas sondern Familienzentren sein. Das hochqualifizierte Personal muss natürlich entsprechend gut bezahlt werden und schön wäre es, wenn das alles beitragsfrei zu haben wäre.
Kann man sich alles wünschen, wird es aber nicht geben, weil das keiner mehr bezahlen kann.
Eher wird die Zukunft so aussehen: Immer mehr Kitas müssen den Betrieb einschränken, weil sie sonst nicht mehr ihrer Aufsichtspflicht gerecht werden können. Eltern werden immer öfter nach Betreuungsalternativen für ihre Kinder suchen müssen. Oder sie müssen den Job selbst übernehmen. Vielleicht werden aber auch einfach die Standards in den Kindergärten und Krippen gesenkt. Ein paar Kinder mehr in der Gruppe, dafür ein bisschen weniger Personal. Wollen wir mal sehen, wie bedürfnisorientiert es dann noch zugeht in unseren Kitas. Aber Hauptsache die Kinder sind verräumt. News4teachers
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