DÜSSELDORF. Die Montessori-Pädagogik ist über 100 Jahre alt und scheint aktuell vor einer neuen Blüte zu stehen: Die Digitalisierung der Bildung bringt neue Lernformen hervor, die stark an das Credo der Reformbewegung „Hilf mir, es selbst zu tun“ erinnern – „entdeckendes Lernen”, Individualisierung und fächer- sowie jahrgangsübergreifender Unterricht sind Stichworte. Passenderweise hat sich mit Montessori Deutschland ein neuer Bundesverband formiert, der die Bewegung voranbringen will. Dessen Vorsitzender, der Mathematiker Dr. Jörg Boysen, erklärt im folgenden Gastbeitrag, worum es dabei geht.
Die Zukunft des Lernens
Die größte Investition einer Gesellschaft sollte in Bildung sein, denn die Kinder und Jugendlichen von heute sind die Gestalter von morgen.
Im klassischen Schulsystem mit Frontalunterricht, ausgerichtet auf das Vermitteln von Wissen nach standardisierten Lehrplänen im Gleichklang der Alterskohorte und einer recht frühen Selektion aufgrund von Leistungsbewertungen nach einheitlichen Ziffernnoten, hat sich schon viel getan. Es entstammt jedoch dem Denken der frühen industriellen Gesellschaft und gleicht eher einer „Lehrfabrik“. Die Welt ist kompliziert geworden. Wenn es um die Zukunft des Lernens geht, sollten wir uns mit der Frage beschäftigen, wie wir als Gemeinschaft unsere Zukunft gestalten und mit welchen Fähigkeiten und Fertigkeiten bzw. mit welchem Wissen wir Kinder und Jugendliche in die Gesellschaft entlassen wollen.
Kennen Sie Albert Nienhuis? Der niederländische Zimmermann stellte in enger Zusammenarbeit mit Maria Montessori Lernmittel her, die ihrer pädagogischen Vision entsprachen. 1929 gründete er Nienhuis Montessori, den weltweit führenden Anbieter von Montessori-Materialien. Nienhuis Montessori ist auch auf der Bildungsmesse didacta 2023 vertreten.
Seit über 85 Jahren vereint das Unternehmen Handwerkskunst mit technischer Finesse. Die Produktwelt von Nienhuis Montessori ermöglicht es Kindern heute so gut wie zu Albert Nienhuis Zeiten, ihre Welt eigenständig zu erkunden. Wir nutzen nur beste Materialien, verarbeitet mit Sorgfalt, Hingabe, dem Blick fürs Detail – und einer tiefen Verbundenheit mit der Pädagogik Maria Montessoris. Seit Jahrzehnten bereits ist Nienhuis Montessori offiziell von der Association Montessori Internationale anerkannt.
Hier bekommen Sie weitere Informationen über Nienhuis Montessori.
Ziel jeder Bildung sollte es daher sein, die Persönlichkeitsentwicklung jedes einzelnen Kindes sowie jeder und jedes einzelnen Jugendlichen optimal zu fördern. Von Natur aus sind alle Kinder neugierig und leistungs- bzw. entwicklungsbereit. Es ist evident und richtig, dass Kinder sich unterschiedlich entwickeln. Genauso evident und folgerichtig ist es, dass man die Lernumgebung für Kinder und Jugendliche auf diese Tatsache ausrichtet. Auf jeden Fall ist es wünschenswert, dass die Gesellschaft alles Notwendige dafür bereitstellt, damit jedes Kind sein ihm eigenes Potenzial vollständig ausschöpfen kann. (Mir ist bewusst, dass dies keine leicht umzusetzende Forderung ist. Ungern würde ich jedenfalls die Ausschöpfung von Bildungschancen auf den Losentscheid reduziert sehen, wie es z. B. in Frankfurt dieses Jahr umgesetzt wurde.)
Die traditionelle deutsche Bildungslandschaft ist von diesem Gedanken weit entfernt. Wir müssen dieses konforme starre Vorgehen, dieses enge Korsett eines jeden Schuljahres hinterfragen. Wir müssen hinterfragen, wie wir Misserfolge, meistens in Form von schlechten Schulnoten und negativen Lernerlebnissen, verhindern, die Kinder und Jugendliche in ihrer Leistungsbereitschaft beeinträchtigen. Bildungsforscher:innen und Neurowissenschaftler:innen belegen, dass eine Schule ohne Noten, Lernen ohne Druck, die Anerkennung des Individuums und echte Inklusion ein angstfreies Lernklima schaffen und somit eine freie Entfaltung der Persönlichkeiten gewährleisten. Und aus der täglichen Erfahrung wissen wir, dass man Kindern viel zutrauen kann.
Der Zeitgeist heute ist geprägt durch Individualisierung, in der Produkte, Prozesse und Dienstleistungen auf die individuellen Bedürfnisse der Nutzer:innen und Anwerder:innen jederzeit angepasst werde können – ob es die Playlist, das Streamingverhalten oder die KI-basierten Vorschläge des Internets sind. Warum sollte das nicht auch in der Bildungswelt möglich sein? Wie zeitgemäß und zukunftsfähig ist die traditionelle Schulform in diesen Zeiten?
“Maria Montessori hat vor über 100 Jahren durch empirisches Beobachten ihre eigene Pädagogik entwickelt”
Es gilt, auf die alters- und entwicklungsbedingten Interessen und Empfänglichkeiten der Kinder individuell einzugehen und die Umgebung, in der sie ihren Alltag verbringen, auf ihre jeweiligen physischen und psychischen Bedürfnisse abzustimmen. Wir müssen von der Lehrfabrik zur Lernmanufaktur kommen. Denn auf diese Art und Weise behalten die Kinder und Jugendlichen ihren Spaß am Lernen. Dabei lernen sie an Grenzen zu stoßen, Hürden eigenständig zu überwinden, eigene Stärken zu erkennen und Schwächen zu respektieren, Fehler zu machen, um daran zu wachsen. Oft sind Erwachsene eher Hemmschwellen beim Lernen.
Es gibt Ansätze, die Lernprozesse neu auszurichten. Dabei wird vor allem auf Digitalisierung und KI-Technologie fokussiert. Es werden Lernplattformen entwickelt, die Kindern das Lernen in Form von `Gaming´ schmackhaft machen möchten. Allerdings sind diese neuen Methoden nur algorithmisch interaktiv. Kinder brauchen ein Gegenüber, sie wollen diskutieren. Sie wollen in ihrer peer group bestehen und Anerkennung finden. Sogenannte „intelligenter“, automatisierter Einzelunterricht bzw. Lernevents für selbstgesteuerte digitale Kompetenzentwicklung vermitteln – höchstens – abfragbares Wissen, fördern aber eher nicht das kritische Denken, geschweige denn die Entwicklung der Persönlichkeit mit all ihren Schattierungen.
Vor allem müssen wir erst einmal ein gemeinsames Verständnis darüber haben, welche digitalen Medien wie im Unterricht sinnvoll eingesetzt werden können. Jedem Schüler bzw. jeder Schülerin ein Tablet oder Laptop in die Hand zu drücken und dann zu hoffen, dass alle zielgerichtet damit umgehen können, ist zu kurz gedacht. Wir müssen didaktische Überlegungen anstellen, wie die Schüler:innen an den Umgang mit Medien herangeführt werden sollen, so dass sie genau verstehen, welche positiven, aber auch negativen Dinge damit bewirkt werden können. Sie sollen die digitalen Medien als Hilfsmittel erleben, die man umsichtig benutzt. Die Kinder und Jugendlichen müssen auch verstehen, dass das Internet nichts vergisst, d. h. sie müssen sich über die Konsequenzen jeden Posts bewusst sein. Schließlich will auch der kritische Umgang mit der Informationsflut gelernt sein. Medienmündigkeit ist ein weites und wichtiges Feld.
Aber zuerst muss man sich über Kindesentwicklung und die darauf fußenden Prinzipien des Lernens im Klaren sein. Maria Montessori hat vor über 100 Jahren durch empirisches Beobachten ihre eigene Pädagogik entwickelt. Sie geht „vom Kinde aus“, stellt den einzelnen Heranwachsenden in den Mittelpunkt. Sie berücksichtigt alters- und entwicklungsbedingte Interessen und Empfänglichkeiten, auf die individuell eingegangen wird. Auch die Umgebung, in der die Kinder und Jugendlichen ihren Alltag verbringen, muss nach Montessori so vorbereitet sein, dass die jeweiligen physischen und psychischen Bedürfnisse Erfüllung finden und sich Kinder bzw. Jugendliche optimal entwickeln und ihr Potenzial entfalten können.
Erkenntnisse, die man durch die Verwerfungen in der Entwicklung von Kindern und Jugendlichen während der Pandemie beobachten konnte, bewirken lange fällige gesellschaftliche Diskussionen über Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen zur gesunden und reifen Entwicklung. Es gab inzwischen auch schon die ein oder andere Maßnahme im schulischen Bildungsbereich, um Fehlentwicklungen aufzufangen. Die Altersgruppe der 0 – 6 Jährigen wird dabei hingegen fast vollständig ausgeblendet. Es wird kaum gewürdigt, dass diese Entwicklungsphase die Grundlage für alle weiteren Lebensabschnitte bildet. Hier muss dringend und umfassend eine Bildungsoffensive stattfinden, die allen Kindern eine ganzheitliche Förderung garantiert.
Ein Argument, das immer wieder für die Digitalisierung des klassischen Unterrichts angebracht wird, ist, dass dann endlich die Individualität, die im Unterricht ja neuerdings gefordert würde, garantiert sei. Digitalisierung ist aber nur vermeintlich die Lösung, denn wie oben angeführt fehlt im Moment noch die notwendige Didaktik. Dagegen werden alle individuellen Interessen und Talente jedes einzelnen Kindes in einer Montessori-Umgebung berücksichtigt und gefördert. Deshalb ist es für uns als Montessori-Pädagog:innen nicht notwendig, uns nur deshalb auf die Digitalisierung zu stürzen, damit wir endlich differenzieren können.
“Die Stärkung und Entfaltung der eigenen Persönlichkeit sind Grundlage für jegliche Entwicklung”
Gerade die jüngere Vergangenheit hat gezeigt, dass Veränderung als Konstante zu sehen ist, dass sich die Gesellschaft an disruptive Prozesse gewöhnen muss. Die gegenseitige Abhängigkeit und die Vernetzung der Welt werden aber weiter voranschreiten. Alles hängt mit allem zusammen. Das ist ein ganzheitlicher Prozess, der sich auch im Bildungsansatz wiederfinden muss. Nur wenn Kinder zur Mündigkeit und Selbständigkeit erzogen werden, können sie mit großem Selbstvertrauen die gesellschaftliche Entwicklung positiv gestalten. Es ist normal, nicht immer alles zu wissen, sondern es geht vielmehr darum, dass die Schüler:innen das Lernen lernen und dass sie wissen, wo sie nachschlagen können, wenn sie etwas nicht wissen. Die Lern- und Leistungsbereitschaft der Kinder muss zum Blühen gebracht werden – auch in der Schule.
Letztendlich ist das große Ziel der Montessori-Pädagogik, Kinder auf ihrem Weg von der Kindheit zur Jugend zu begleiten und ihnen die Möglichkeit zu bieten, selbständige, mündige und unabhängige Mitglieder unserer Gesellschaft zu werden. Es ist ein ganzheitlicher Bildungsansatz, bei dem es um den großen Rahmen geht – Maria Montessori nennt ihn Kosmische Theorie, bei der es heißt, eigene Verantwortung gegenüber unserer Welt und der Gemeinschaft zu übernehmen, also ein Verantwortungsbewusstsein zu entwickeln.
Welche spezifischen Fähigkeiten und Fertigkeiten Kinder und Jugendliche für die Zukunftsbewältigung brauchen, können wir detailliert nicht voraussehen. Die Geschichte der Menschheit zeigt uns jedoch, dass die Stärkung und Entfaltung der eigenen Persönlichkeit Grundlage für jegliche Entwicklung sind. Es wäre interessant bei Jugendlichen nachzufragen, was sie brauchen, um die Zukunft zu gestalten.
Wir haben dies gerade getan; die Ergebnisse erscheinen in einer Absolvent:innenstudie mit dem Titel „Man lernt Sachen, die man wirklich braucht“ im Juni diesen Jahres im Beltz Verlag.