Montessori-Pädagogik: „Die Lern- und Leistungsbereitschaft der Kinder zum Blühen bringen – auch in der Schule!“

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DÜSSELDORF. Die Montessori-Pädagogik ist über 100 Jahre alt und scheint aktuell vor einer neuen Blüte zu stehen: Die Digitalisierung der Bildung bringt neue Lernformen hervor, die stark an das Credo der Reformbewegung „Hilf mir, es selbst zu tun“ erinnern – „entdeckendes Lernen“, Individualisierung und fächer- sowie jahrgangsübergreifender Unterricht sind Stichworte. Passenderweise hat sich mit Montessori Deutschland ein neuer Bundesverband formiert, der die Bewegung voranbringen will. Dessen Vorsitzender, der Mathematiker Dr. Jörg Boysen, erklärt im folgenden Gastbeitrag, worum es dabei geht.

„Wir müssen von der Lehrfabrik zur Lernmanufaktur kommen“: Kinder in einer Montessori-Schule. Foto: Shutterstock

Die Zukunft des Lernens

Die größte Investition einer Gesellschaft sollte in Bildung sein, denn die Kinder und Jugendlichen von heute sind die Gestalter von morgen.

Im klassischen Schulsystem mit Frontalunterricht, ausgerichtet auf das Vermitteln von Wissen nach standardisierten Lehrplänen im Gleichklang der Alterskohorte und einer recht frühen Selektion aufgrund von Leistungsbewertungen nach einheitlichen Ziffernnoten, hat sich schon viel getan. Es entstammt jedoch dem Denken der frühen industriellen Gesellschaft und gleicht eher einer „Lehrfabrik“. Die Welt ist kompliziert geworden. Wenn es um die Zukunft des Lernens geht, sollten wir uns mit der Frage beschäftigen, wie wir als Gemeinschaft unsere Zukunft gestalten und mit welchen Fähigkeiten und Fertigkeiten bzw. mit welchem Wissen wir Kinder und Jugendliche in die Gesellschaft entlassen wollen.

Nienhuis Montessori

Maria Montessori. Foto: Nienhuis Montessori

Kennen Sie Albert Nienhuis? Der niederländische Zimmermann stellte in enger Zusammenarbeit mit Maria Montessori Lernmittel her, die ihrer pädagogischen Vision entsprachen. 1929 gründete er Nienhuis Montessori, den weltweit führenden Anbieter von Montessori-Materialien. Nienhuis Montessori ist auch auf der Bildungsmesse didacta 2023 vertreten.

Seit über 85 Jahren vereint das Unternehmen Handwerkskunst mit technischer Finesse. Die Produktwelt von Nienhuis Montessori ermöglicht es Kindern heute so gut wie zu Albert Nienhuis Zeiten, ihre Welt eigenständig zu erkunden. Wir nutzen nur beste Materialien, verarbeitet mit Sorgfalt, Hingabe, dem Blick fürs Detail – und einer tiefen Verbundenheit mit der Pädagogik Maria Montessoris. Seit Jahrzehnten bereits ist Nienhuis Montessori offiziell von der Association Montessori Internationale anerkannt.

Hier bekommen Sie weitere Informationen über Nienhuis Montessori.

Ziel jeder Bildung sollte es daher sein, die Persönlichkeitsentwicklung jedes einzelnen Kindes sowie jeder und jedes einzelnen Jugendlichen optimal zu fördern. Von Natur aus sind alle Kinder neugierig und leistungs- bzw. entwicklungsbereit. Es ist evident und richtig, dass Kinder sich unterschiedlich entwickeln. Genauso evident und folgerichtig ist es, dass man die Lernumgebung für Kinder und Jugendliche auf diese Tatsache ausrichtet. Auf jeden Fall ist es wünschenswert, dass die Gesellschaft alles Notwendige dafür bereitstellt, damit jedes Kind sein ihm eigenes Potenzial vollständig ausschöpfen kann. (Mir ist bewusst, dass dies keine leicht umzusetzende Forderung ist. Ungern würde ich jedenfalls die Ausschöpfung von Bildungschancen auf den Losentscheid reduziert sehen, wie es z. B. in Frankfurt dieses Jahr umgesetzt wurde.)

Die traditionelle deutsche Bildungslandschaft ist von diesem Gedanken weit entfernt. Wir müssen dieses konforme starre Vorgehen, dieses enge Korsett eines jeden Schuljahres hinterfragen. Wir müssen hinterfragen, wie wir Misserfolge, meistens in Form von schlechten Schulnoten und negativen Lernerlebnissen, verhindern, die Kinder und Jugendliche in ihrer Leistungsbereitschaft beeinträchtigen. Bildungsforscher:innen und Neurowissenschaftler:innen belegen, dass eine Schule ohne Noten, Lernen ohne Druck, die Anerkennung des Individuums und echte Inklusion ein angstfreies Lernklima schaffen und somit eine freie Entfaltung der Persönlichkeiten gewährleisten. Und aus der täglichen Erfahrung wissen wir, dass man Kindern viel zutrauen kann.

Der Zeitgeist heute ist geprägt durch Individualisierung, in der Produkte, Prozesse und Dienstleistungen auf die individuellen Bedürfnisse der Nutzer:innen und Anwerder:innen jederzeit angepasst werde können – ob es die Playlist, das Streamingverhalten oder die KI-basierten Vorschläge des Internets sind. Warum sollte das nicht auch in der Bildungswelt möglich sein? Wie zeitgemäß und zukunftsfähig ist die traditionelle Schulform in diesen Zeiten?

„Maria Montessori hat vor über 100 Jahren durch empirisches Beobachten ihre eigene Pädagogik entwickelt“

Es gilt, auf die alters- und entwicklungsbedingten Interessen und Empfänglichkeiten der Kinder individuell einzugehen und die Umgebung, in der sie ihren Alltag verbringen, auf ihre jeweiligen physischen und psychischen Bedürfnisse abzustimmen. Wir müssen von der Lehrfabrik zur Lernmanufaktur kommen. Denn auf diese Art und Weise behalten die Kinder und Jugendlichen ihren Spaß am Lernen. Dabei lernen sie an Grenzen zu stoßen, Hürden eigenständig zu überwinden, eigene Stärken zu erkennen und Schwächen zu respektieren, Fehler zu machen, um daran zu wachsen. Oft sind Erwachsene eher Hemmschwellen beim Lernen.

Es gibt Ansätze, die Lernprozesse neu auszurichten. Dabei wird vor allem auf Digitalisierung und KI-Technologie fokussiert. Es werden Lernplattformen entwickelt, die Kindern das Lernen in Form von `Gaming´ schmackhaft machen möchten. Allerdings sind diese neuen Methoden nur algorithmisch interaktiv. Kinder brauchen ein Gegenüber, sie wollen diskutieren. Sie wollen in ihrer peer group bestehen und Anerkennung finden. Sogenannte „intelligenter“, automatisierter Einzelunterricht bzw. Lernevents für selbstgesteuerte digitale Kompetenzentwicklung vermitteln – höchstens – abfragbares Wissen, fördern aber eher nicht das kritische Denken, geschweige denn die Entwicklung der Persönlichkeit mit all ihren Schattierungen.

Vor allem müssen wir erst einmal ein gemeinsames Verständnis darüber haben, welche digitalen Medien wie im Unterricht sinnvoll eingesetzt werden können. Jedem Schüler bzw. jeder Schülerin ein Tablet oder Laptop in die Hand zu drücken und dann zu hoffen, dass alle zielgerichtet damit umgehen können, ist zu kurz gedacht. Wir müssen didaktische Überlegungen anstellen, wie die Schüler:innen an den Umgang mit Medien herangeführt werden sollen, so dass sie genau verstehen, welche positiven, aber auch negativen Dinge damit bewirkt werden können. Sie sollen die digitalen Medien als Hilfsmittel erleben, die man umsichtig benutzt. Die Kinder und Jugendlichen müssen auch verstehen, dass das Internet nichts vergisst, d. h. sie müssen sich über die Konsequenzen jeden Posts bewusst sein. Schließlich will auch der kritische Umgang mit der Informationsflut gelernt sein. Medienmündigkeit ist ein weites und wichtiges Feld.

Aber zuerst muss man sich über Kindesentwicklung und die darauf fußenden Prinzipien des Lernens im Klaren sein. Maria Montessori hat vor über 100 Jahren durch empirisches Beobachten ihre eigene Pädagogik entwickelt. Sie geht „vom Kinde aus“, stellt den einzelnen Heranwachsenden in den Mittelpunkt. Sie berücksichtigt alters- und entwicklungsbedingte Interessen und Empfänglichkeiten, auf die individuell eingegangen wird. Auch die Umgebung, in der die Kinder und Jugendlichen ihren Alltag verbringen, muss nach Montessori so vorbereitet sein, dass die jeweiligen physischen und psychischen Bedürfnisse Erfüllung finden und sich Kinder bzw. Jugendliche optimal entwickeln und ihr Potenzial entfalten können.

Erkenntnisse, die man durch die Verwerfungen in der Entwicklung von Kindern und Jugendlichen während der Pandemie beobachten konnte, bewirken lange fällige gesellschaftliche Diskussionen über Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen zur gesunden und reifen Entwicklung. Es gab inzwischen auch schon die ein oder andere Maßnahme im schulischen Bildungsbereich, um Fehlentwicklungen aufzufangen. Die Altersgruppe der 0 – 6 Jährigen wird dabei hingegen fast vollständig ausgeblendet. Es wird kaum gewürdigt, dass diese Entwicklungsphase die Grundlage für alle weiteren Lebensabschnitte bildet. Hier muss dringend und umfassend eine Bildungsoffensive stattfinden, die allen Kindern eine ganzheitliche Förderung garantiert.

Ein Argument, das immer wieder für die Digitalisierung des klassischen Unterrichts angebracht wird, ist, dass dann endlich die Individualität, die im Unterricht ja neuerdings gefordert würde, garantiert sei. Digitalisierung ist aber nur vermeintlich die Lösung, denn wie oben angeführt fehlt im Moment noch die notwendige Didaktik. Dagegen werden alle individuellen Interessen und Talente jedes einzelnen Kindes in einer Montessori-Umgebung berücksichtigt und gefördert. Deshalb ist es für uns als Montessori-Pädagog:innen nicht notwendig, uns nur deshalb auf die Digitalisierung zu stürzen, damit wir endlich differenzieren können.

„Die Stärkung und Entfaltung der eigenen Persönlichkeit sind Grundlage für jegliche Entwicklung“

Gerade die jüngere Vergangenheit hat gezeigt, dass Veränderung als Konstante zu sehen ist, dass sich die Gesellschaft an disruptive Prozesse gewöhnen muss. Die gegenseitige Abhängigkeit und die Vernetzung der Welt werden aber weiter voranschreiten. Alles hängt mit allem zusammen. Das ist ein ganzheitlicher Prozess, der sich auch im Bildungsansatz wiederfinden muss. Nur wenn Kinder zur Mündigkeit und Selbständigkeit erzogen werden, können sie mit großem Selbstvertrauen die gesellschaftliche Entwicklung positiv gestalten. Es ist normal, nicht immer alles zu wissen, sondern es geht vielmehr darum, dass die Schüler:innen das Lernen lernen und dass sie wissen, wo sie nachschlagen können, wenn sie etwas nicht wissen. Die Lern- und Leistungsbereitschaft der Kinder muss zum Blühen gebracht werden – auch in der Schule.

Der Autor: Jörg Boysen, Vorsitzender von Montessori Deutschland. Foto: privat

Letztendlich ist das große Ziel der Montessori-Pädagogik, Kinder auf ihrem Weg von der Kindheit zur Jugend zu begleiten und ihnen die Möglichkeit zu bieten, selbständige, mündige und unabhängige Mitglieder unserer Gesellschaft zu werden. Es ist ein ganzheitlicher Bildungsansatz, bei dem es um den großen Rahmen geht – Maria Montessori nennt ihn Kosmische Theorie, bei der es heißt, eigene Verantwortung gegenüber unserer Welt und der Gemeinschaft zu übernehmen, also ein Verantwortungsbewusstsein zu entwickeln.

Welche spezifischen Fähigkeiten und Fertigkeiten Kinder und Jugendliche für die Zukunftsbewältigung brauchen, können wir detailliert nicht voraussehen. Die Geschichte der Menschheit zeigt uns jedoch, dass die Stärkung und Entfaltung der eigenen Persönlichkeit Grundlage für jegliche Entwicklung sind. Es wäre interessant bei Jugendlichen nachzufragen, was sie brauchen, um die Zukunft zu gestalten.

Wir haben dies gerade getan; die Ergebnisse erscheinen in einer Absolvent:innenstudie mit dem Titel „Man lernt Sachen, die man wirklich braucht“ im Juni diesen Jahres im Beltz Verlag.

„Lernen mit viel Freude und ohne Angst“: Die (etwas andere) Leistungsbewertung an einer Montessorischule

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kanndochnichtwahrsein
1 Jahr zuvor

„Erkenntnisse, die man durch die Verwerfungen in der Entwicklung von Kindern und Jugendlichen während der Pandemie beobachten konnte, bewirken lange fällige gesellschaftliche Diskussionen über Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen zur gesunden und reifen Entwicklung.“
Ist dem so? Ich wünschte es, sehe es aber nicht.

Als Montessori-Pädagoge träumt man (auch ich) davon, das dem so sein möge.
Allein der Glaube fehlt, die Beobachtungen der Realität zeigen (mir) etwas anderes. Langjährige Erfahrung im „normalen“ Schulsystem hat gelehrt, dass Änderungen nicht gewünscht, dann auch lieber nicht gedacht und schon gar nicht finanziert werden.
Ich glaube, der Glaube fehlt in der Breite des Bildungswesens, dass Kinder ihre Persönlichkeit entwickeln können, nicht erzogen werden müssen im klassischen Sinne, sondern Gelegenheiten nutzen können und wollen.
So sehr diese Überzeugung Montessoris auch meine ist, so sehr sorgt mich aber auch die Entwicklung, die Kinder in den letzten 15 Jahren bereits in ihrer vorschulischen Entwicklung auf eine Weise verändert erscheinen lässt, dass ich mir nicht mehr sicher bin, ob dieser Drang des Kindes nach Selbst- und Persönlichkeitsentwicklung, die natürliche Neugier, das zutiefst den Menschen zum Menschen definierende Wissen-und Entdecken-Wollen, wirklich noch der Flut konsumierbarer Reize standhalten kann.

In der Schule (Politiker, Kollegen, Eltern, Kinder) sehe ich nach der/durch die Krise eher den dringenden Wunsch zur Rückkehr zum „bewährten“ System schneller „Lösungen“: Ein halbgares Rezept verteilen, alle Schüler und Lehrer einmal durchschleusen, dann ein Regierungswechsel, der Neues, Besseres verspricht und nach der Wahl auch wieder nicht hält, auf das der Zyklus in grün von neuem beginnt…
Das ist die einzig systematische Erscheinung, die ich seit Jahrzehnten im Bildungswesen beobachten kann. M.E. interessiert niemanden, ob Kinder sich gesund und zur Reife entwickeln, ob sie auf Zukunft orientierte Bildung erwerben. Vielmehr sollen sie – so der von mir beobachtete/interpretierte gesellschaftliche Konsens – in ihrer Schule zu einem „Mensch mit Abschluss“ als Voraussetzung für die Wirtschaft gemacht werden.

Die Gesellschaft könnte tatsächlich spätestens aus den Erfahrungen während der Pandemie (die ja noch nicht vorbei ist, sondern lediglich von weiteren Krisen überlagert wird und wie alle Krisen gerne schnell ausgeblendet wird) gelernt haben. Statt dessen schreien „alle“ (rühmliche Ausnahmen gibt es sicher) nach „es soll wieder sein wie vorher“, die Kinder „müssen wieder ihr Leben zurückhaben“ etc.
Dies Phänomen allein zeigt m.E., dass der Montessori-Gedanke des „echten“ individualisierten, differenzierten Lernens, der Entwicklung jeder einzelnen Persönlichkeit, des Ziels, Verantwortungsübernahme lernen zu lassen, längst nicht angekommen sind in der Breite der Gesellschaft.

Schade! Tatsächlich hatte auch ich die große Hoffnung, dass eine/diese Krise vielleicht doch auf sinnvolle, erprobte, nachhaltige Konzepte (wie Kerngedanken der Montessori-Pädagogik – in die Zukunft gedacht) zurückgreifen lässt, statt wieder neue Säue (Digitalisierung auf Teufel komm raus, auch ohne didaktische Konzepte, um ihrer selbst willen oder für die herstellende Industrie oder zur Beruhigung des Gewissens von Politikern oder Eltern???) durch die Schulen zu treiben.

„Gerade die jüngere Vergangenheit hat gezeigt, dass Veränderung als Konstante zu sehen ist, dass sich die Gesellschaft an disruptive Prozesse gewöhnen muss.“
Haben wir das wirklich begriffen? Ich wünschte es, sehe es leider aber nicht.

Genau dies hat die Menschheit doch seit Jahrtausenden nicht gelernt, nicht aus vergangenen und gegenwärtigen oder andauernden Krisen, nicht von visionären Vordenkern aus Pädagogik oder sonstiger Wissenschaft, nicht aus Erfahrung. Dabei müsste „mensch“ im Grunde „nur“ den Gedanken der „kosmischen Erziehung“ in die Zukunft transferieren, um die Grundlagen zu schaffen, heutige und zukünftige Probleme der Menschheit in dafür vorbereitete Hände der als nächste handelnden Generation legen und ihnen eine Lösung zutrauen zu können.
Hätte man diesen Schritt vor 100 Jahren getan, wären wir heute an einem anderen Punkt – vermutlich nicht kurz vor dem Kipppunkt aller unserer Systeme…

Montessori könnte so viele Anregungen geben, Zukunft nicht nur in Schule zu gestalten…

Carsten60
1 Jahr zuvor

Könnte es sein, dass die Montessori-Idylle oft genug mit sozialer Segregation verbunden ist, die doch sonst immer als so schlecht gilt? Hier gibt’s ein Beispiel dafür:
https://www.deutschlandfunkkultur.de/boom-der-privatschulen-die-mittel-und-oberschicht-setzt-100.html

Palim
1 Jahr zuvor
Antwortet  Carsten60

Das betrifft ja aber nicht allein Schulen mit Montessori-Pädagogik, sondern es geht allgemein um Privatschulen.

Carsten60
1 Jahr zuvor
Antwortet  Palim

Ja, richtig, aber Leute wie Sie wollen nicht einsehen (viele progressive Schulreformer auch nicht), dass selbst nach Abschaffung von Privatschulen und nach Abschaffung der Gymnasien die soziale Segregation nach Wohngebieten NOTWENDIGERWEISE eine ebensolche in den Schulen nach sich ziehen würde, denn die Schulen stehen immer in den Wohngebieten und nie allzu weit weg. Genau das steht in dem von mir angegebenen Link, wenn man ihn richtig interpretiert. Montessori-Pädagogik ist aber doch nicht bekannt als Präferenz von sog. Brennpunktschulen, oder? Auch bei Waldorf: bürgerliche Eltern mit viel Engagement zur Bildung ihrer Kinder, ebenso in der Laborschule Bielefeld. Sonst macht man sich gerade um die doch weniger Sorgen. 🙂

Palim
1 Jahr zuvor
Antwortet  Carsten60

Es steht deutlich im Text: Man kann sich Bedingungen erkaufen und die Segregation wird dadurch gefördert. Dann muss man es genau so darstellen, statt das Lob auf einzelne aufgenommene benachteiligte Schüler:innen anzustimmen.

Dass es auch zu Benachteiligung durch Wohngebiete kommt, wird durch Privatschulen nicht aufgehoben, sondern verschärft.

Bla
1 Jahr zuvor
Antwortet  Palim

Das ist so.
Aber haben die Privatschulen deshalb die „Schuld“?
Oder sollte eher der Staat mal nachziehen und bessere Rahmenbedingungen stellen?
Könnten die Regelschulen die SuS der Privatschulen zusätzlich abfangen? Das wird schon mit Privatschulen schwierig. Ohne wird es für die Regelschulen mit Sicherheit nicht sonderlich angenehmer, oder sehen Sie das anders?

Es wird irgendwie oft so dargestellt, als ob die bösen Privatschulen die eigenen Bedingungen so schlecht machen. Ist das echt so? Warum denn – also wie können sie das machen, wenn der Staat mal investieren würde?

Generell gibt es halt immer Vor- und Nachteile. Auch als/für LuL an einigen Privatschulen.
Ansonsten wäre ja jeder dumm, der an einer Regelschule arbeiten würde?

Palim
1 Jahr zuvor
Antwortet  Bla

Ich sehe die Verantwortung beim Staat.
Gäbe es einen sozialen Schlüssel oder würde der Anspruch, die Segregation zu vermeiden, konsequent vom Staat durchgesetzt und die Privatschulen wären verpflichtet, ihre Schülerschaft dem Durchschnitt oder dem Schlüssel entsprechend zusammenzusetzen, könnte der Staat vergleichbare Bedingungen durchsetzen oder zumindest daraufhin einwirken.

Dass das nicht umgesetzt wird, verstärkt nicht nur die Benachteiligung derer, die ohnehin weniger haben, sondern auch eine Gesellschaft, die schon im KiGa-Alter die Segregation lernt und lebt und das Absondern für gut befindet.
Ich kann daran nichts Gutes finden, auch wenn es hier viele schön reden oder schreiben wollen.

Die guten Bedingungen privater Schulen entstehen auf dem Rücken der anderen, gerade weil man das Geld, das für Bildung ausgegeben wird, nicht gemeinsam sondern ungerecht verteilen will, zu Gunsten derer, die ohnehin bessere Voraussetzungen mitbringen.

Carsten60
1 Jahr zuvor
Antwortet  Palim

Und was ist mit der Segregation durch Wohngebiete selbst dann, wenn das gegliederte Schulsystem abgeschafft werden sollte, der große Traum der GEW ?
Mir scheint das ein Tabuthema zu sein, niemand spricht davon, obwohl das Problem offen daliegt, jeder kann sich davon überzeugen. Es gibt Studien von Marcel Helbig zur Segregation der Wohngebiete in deutschen Großstädten. Die ist auch wieder sehr unterschiedlich.

kanndochnichtwahrsein
1 Jahr zuvor
Antwortet  Carsten60

Lang nicht alle Montessori-Schulen sind kostenpflichtige Privatschulen – wäre auch gar nicht im Sinne der Erfinderin!

Bla
1 Jahr zuvor

Normalerweise sind Montessori Schulen auch unter einem gemeinnützigen Verein anerkannt. Dürfen daher keine Gewinne auszahlen.

stthh
1 Jahr zuvor

Das ist eine in vielfacher Hinsicht beschönigende Darstellung eines totalitären Programms: https://www.furche.at/gesellschaft/montessori-die-scheinheilige-maria-8339289

kanndochnichtwahrsein
1 Jahr zuvor
Antwortet  stthh

Es darf in keiner Hinsicht ausgeblendet werden, dass Montessori sowohl politisch wie religiös ausgrenzend dachte.
Ja, dem wird so gewesen sein, es ist wohl hinreichend belegt, dass diese Annahme politischer und m.E. auch religiöser Extrem-/Fehl-Ausrichtung auf Tatsachen beruht.
Es ist auch eine Tatsache, dass diese Aspekte in bestimmten Kreisen ausgeblendet wurden/werden.
Warum aber muss man „das Kind mit dem Bade ausschütten“?
Damals wie heute ist für mich als Kern der Montessori-Praxis wichtig, dass Kindern Entwicklungspotential zugestanden wird, das sie in passender Umgebung entfalten können und wollen.
Aus beiden Aspekten ergibt sich m.E. in der Praxis eine besondere Verantwortung der Auswahl der „Umgebung“: Wir gestalten heute für die Kinder von heute eine Umgebung, die sie wachsen lässt. Wie diese Umgebung aussieht, welchen Werten und Überzeugungen sie folgt, liegt in unserer Verantwortung.
Wir verantworten heute für die uns heute anvertrauten Kinder, welche Denkanstöße und Anregungen wir diesen Kindern über die Nutzung bestimmter (m.E. durchaus nützlicher) Prinzipien zur Methodik der Grundbildung hinaus anbieten.
Wir müssen heute richtige und wichtige Fragen und Antworten zu aktuell und zukünftig bedeutsamen Themen finden.
Montessori-Methoden können Kindern erleichtern, einen Zugang zum Lernen und zur Welt zu finden.

Ist das System der klassischen Schule heute wirklich ideologiefreier als die damaligen Positionen der Reformpädagogen?
Basiert nicht unser ganzes Schulsystem auf Grundlagen und Traditionen früherer Jahrhunderte samt all ihrer Fehlentwicklungen und Katastrophen?
Ist nicht alles, was wir heute tun, von den Fehlern unserer Vorgänger geprägt?
Gibt es nicht in jeder Stadt Lehrer, Schulleiter, Politiker… früherer Jahrzehnte, deren Verwicklung und Verbandelung mit Nationalsozialismus oder auch anderen zweifelhaften, im Zweifel menschenfeindlichen Strömungen inzwischen bekannt wurde?
Wir sollten nicht nur im Hinblick auf die Reformpädagogen kritisch mit der Vergangenheit umgehen und uns fragen, was wir heute besser machen müssen, wie wir das Beste aus dem Gewesenen herausfiltern und zu Neuem, Zukunftsfähigem verbinden können.

Unser Schulsystem ist m.E. in weiten Teilen auch außerhalb von „Reformpädagogik“ nicht an der Individualität der Kinder interessiert, wenig persönlichkeitsbildend, bietet wenig Möglichkeiten individueller Entwicklungen und Lernwege, hat zum Ziel, alle Schüler auf dem gleichen Weg zum gleichen Ziel zu führen, hat wenig Antworten, wie mit „anderen“ Kindern umzugehen ist, die dies aus welchen Gründen auch immer nicht mitgehen können.
Schule als solche, wie sie heute immer noch ist, erscheint mir anachronistisch.

Politik, Extremismus, Gewalt, Krieg, Umwelt, Klima… Probleme, die die Kinder von heute morgen lösen müssen.
Wie bereiten wir sie darauf vor?
Mit Methoden und Stukturen von gestern? Sicher nicht.
Mit ausschließlich neuen Metohden sicherlich genauso wenig.

Vor allem brauchen wir heute eine klare Werteausrichtung in den Schulen – und sei es nur der Wert, in welchen Grenzen sich individuelle Werte und Freiheiten bewegen dürfen, sodass sie noch sozialverträglich und für eine Coexistenz von immer mehr Menschen auf immer engerem Raum zuträglich sind, das Überleben der Menschheit nicht gefährden.

Wir müssen dabei aufpassen, dass wir nicht selbst in ähnliche Fallen tappen, in denen sich schon unsere Berufsvorgänger verfingen!
Die aktuelle Diskussion zwschen den beiden weit auseinander liegenden Standpunkten „bedingungsloser Pazifismus“ und „Aufrüstung“ mag ein Beispiel sein. Wir alle müssen uns positionieren, den Schülern einerseits Orientierung und Mittel zur Bewältigung ihrer Lebenswelt (derzeit vor allem ihrer Zukunftsängste) bieten, andererseits Toleranz für gegensätzliche Meinungen und Lebensweisen sowie ein Maß für die Grenze der Toleranz vermitteln.

Achin
1 Jahr zuvor

Seltsam, dass so viele bürgerliche Menschen die Schule des 21. Jahrhunderts mit Ideen aus dem vergangenen gestalten möchten, traurig, wenn sie sich dabei auf Heldengestalten berufen, die entweder faschistischen Diktatoren nachliefen (Montessori, Petersen) oder sich wiederholt rassistisch äußerten (Steiner).

Carsten60
1 Jahr zuvor
Antwortet  Achin

Ich finde es auch seltsam, dass ausgerechnet news4teachers hier eine Art von Reklame für Privatschulen macht, indem alles nur positiv dargestellt wird und Nachteile eben dieser Privatschulen gar nicht erst genannt werden. Das wird erreicht, indem nur Funktionäre der Privatschulszene ausführlich zu Wort kommen.
Allerdings wurde hier in der Vergangenheit schon mal in Forum mächtig geschimpft gegen die Jenaplanschulen, alles wegen der Person von Peter Petersen. Jeder, der die Sache verteidigte, wurde als „Nazi“ oder „braun“ oder so tituliert. Ich hoffe, die Redaktion erinnert sich noch. Petersens pädagogische Theorie stammte aus den 1920er Jahren, und nirgends steht, dass er die später wegen der Nazi-Herrschaft revidiert hätte. Man vergleiche Wikipedia dazu. Da steht z.B. ein Zitat eines Montessori-Experten: „Trotz einiger äußerer Anpassungen gab er die ethische Substanz seines Denkens, die im krassen Gegensatz zu dem Menschen verachtenden Rassismus des nationalsozialistischen Regimes stand, nicht auf.“ Auch jüdische Schüler wurden in seinen Schulen weiter unterrichtet.
Man kann eben nicht alle früheren — für ihre Zeit fortschrittlichen — Reformpädagogen an dem heutigen Parteiprogramm etwa der Grünen oder den Vorstellungen der GEW messen. Auch heutige pädagogische Theorien werden in 100 Jahren vermutlich als irgendwie „-istisch“ abgekanzelt werden, und ihre Protagonisten werden in einem schlechten Licht erscheinen. Vielleicht entdeckt man später sogar im unfangreichen Nachlass von Pestalozzi irgendwas, was man beanstanden kann (vielleicht das Wort Negerkinder?). Dann kann man darangehen, die Pestalozzistraßen im Lande umzubenennen. Dieses Umbenennen ist ja ein neuer Volkssport geworden. Das Peter-Petersen-Gymnasium in Mannheim wurde 2014 schon mal umbenannt. Ein Montessori-Gymnasium in Köln gibt’s aber noch.

GriasDi
1 Jahr zuvor

Einer meiner Abiturienten war bis zum Mittelschulabschluss auf einer Montessorischule. Sein Fazit: man lernt dort lernen vorzutäuschen. Er hatte Mühe, den Mittelschulabschluss zu schaffen. Er war in einer Klasse mit 15 SchülerInnen der einzige, der weiterkam als zum Mittelschulabschluss.

kanndochnichtwahrsein
1 Jahr zuvor
Antwortet  GriasDi

„auf einer Montessorischule“ – auf EINER… heißt nicht, dass es überall so ist…
Es gibt solche Beispiele und genau gegenteilige.
Es soll Menschen geben, die tatsächlich Lernen gelernt haben, die ihre Bildung weder für den reinen wirtschaftlichen Erfolg (zum Nachteil anderer) noch zur Machtausübung nutzen, sondern verstanden haben, wie sie das Gelernte sinnvoll, sozial, nachhaltig nutzen können.

All das gibt es übrigens genauso in anders ausgerichteten Schulen – auch in den ganz „normalen“ Schulen an der nächsten Ecke…
Montessorischulen haben sicherlich ebenso erfolgreiche (Gates), kreative (Hundertwasser, van Veen) oder bedeutende (Anne Frank, die britischen Prinzen) Persönlichkeiten wie auch ganz bürgerlich-normale Handwerker, Hausfrauen, Lehrer, erfolglose Künstler, Yogalehrer, Juristen, Naturwissenschaftler oder Lebenskünstler hervorgebracht wie andere Schulen.
Ich würde behaupten, dass aus Schulen in der Tradition der Reformpädaogik (soweit sie gut gemacht sind) mehr Denker, Forscher, Künstler, Dichter, Umweltschützer oder Menschenrechtler hervorgegangen sind und hervorgehen als Despoten, Kriegstreiber oder Extremisten.
Was will man mehr?

Warum muss man immer das eine gegen das andere stellen?
Liegt es nicht auch an der Passung von Schule, Klasse, Lehrer, Methode und dem Schüler selbst, ob ein Kind Nutzen aus seiner Schulzeit ziehen kann?
Liegt es nicht auch in der Verantwortung der Eltern, ein Kind, dem eine Schulform nicht liegt, in eine besser geeignete Schule zu schicken?

Und wenn wir ehrlich sind: sortieren nicht viele Gymnasien allzu bereitwillig Schüler aus, die nicht im herkömmlichen Sinne erfolgreich sind oder dies nicht erfolgreich vortäuschen können?

Mal ehrlich, was wäre die Welt ohne Google und Wikipedia oder Hundertwassers verrückte Häuser…

Gerald Hüther formuliert in seinen Vorträgen Erkenntnisse aus der modernen Lernforschung, die denen von Montessori auffällig ähneln.
Alle Erkenntnis entsteht doch aus Erkenntnissen, die vorher schon da waren. Warum will/sollte man die Historie der Pädagogik mit ihren nützlichen Vorschlägen wegen (sicherlich sehr bedauerlicher und nicht entschuldbarer) Verfehlungen ihrer Protagonisten aus den Geschichtsbüchern streichen?

Bla
1 Jahr zuvor
Antwortet  GriasDi

Witzig, das Selbe kenne ich auch von einer Regelschule. Sind das jetzt Einzelfälle oder ist das der Standard?

Brigitte Pemberger
1 Jahr zuvor

„Maria Montessori hat vor über 100 Jahren durch empirisches Beobachten ihre eigene Pädagogik entwickelt“

Danke, Herr Boysen, für dieses Zitat.

Was Maria Montessori durch BEOBACHTUNG DER KINDER schuf, scheint häufig vergessen zu gehen. Sehr schnell (man lese die Kommentare) entflammen Dikussionen um Bildungschancen(un)gerechtigkeit, Vor- und Nachteile von diesem und jenem Bildungssystem oder Ansätze „von damals“ werden als nicht-mehr-zeitgemäß abgetan.
Jedoch, ganz nüchtern betrachtet: Die feine, jedem Pädagogen und jeder Pädagogin zugängliche Kernbotschaft in obigem Zitat ist doch zeitlich und örtlich unabhängig verfügbar und kann mit Blick auf das Kind gelebt und kultiviert werden. Dabei kommt es in erster Linie auf die Menschen und ihre Haltung an und nicht auf die „Marke“ oder das „Label“ der Institution, in der sie arbeiten. Mit diesen Zeilen möchte ich den Blick auf die Gestaltungsmöglichkeiten einer jeden einzelnen Person lenken, die mit Kindern und Jugendlichen arbeitet. Es lohnt sich für alle, Freiräume (auch mini-kleine) mit Blick auf die Entwicklung der Heranwachsenden im Kleinen zu sehen und zu ergreifen –auch wenn dies meistens im Stillen geschieht und die Klagen über Chancenungleichheit nicht selten lauter und schriller daherkommen.

Dass news4teachers an die Montessori-Pädagogik erinnert, finde ich einen tollen Beitrag zum Dialog um die Art von Bildung, die wir ermöglichen wollen. Weshalb denn nicht das Kind ins Zentrum sämtlicher pädagogischer Bemühungen stellen und „das System“ einfach mal System sein lassen?

kanndochnichtwahrsein
1 Jahr zuvor

Das ist der Kern der Sache!
Eigentlich sollte das alles, wenn nicht aus gesundem Menschenverstand heraus seit Jahrhunderten, so doch mindestens nachdem die Reformpädagogen drauf hingewiesen haben, für jeden Pädagogen selbstverständlich sein und brauchte kein Label.
Das Montessori-Label brauchte man in der Vergangenheit im Grunde nur, weil die Materialien geschützt waren und weil man Werbung mit einer Alternative zum „normalen“ System machen wollte.

Warum steht noch immer nicht das Kind im Mittelpunkt pädagogischen Handelns???
Weil Bildung verwaltet, nicht gelebt wird.
Weil Bildung dann mehr kosten würde.
Weil man dazu mehr Lehrer etc. brauchen würde.
Weil am Ende nicht bei jedem Kind die gleiche Bildung herauskäme.
Weil dass dann nicht so einfach zu verwalten wäre.
Weil Bildung und Bildungserfolg dann anders definiert werden müsste.
Weil man den Wert der Person erkennen müsste, statt sich auf Noten zu verlassen.

Am Ende: weil man sich einlassen müsste!