DETMOLD. Mehr als 100.000 Kinder und Jugendliche aus der Ukraine sind mittlerweile in Deutschlands Schulen angekommen – keine leichte Situation, weder für die vor dem Krieg geflüchteten Familien noch für die aufnehmenden Schulgemeinden, die ihre Kräfte bündeln müssen. Eine der ersten Schulen, die Dutzende von ukrainischen Schülerinnen und Schülern aufnahm, war die August-Hermann-Francke-Gesamtschule im nordrhein-westfälischen Detmold, eine freie christliche Schule. Wie sieht der neue Schulalltag aus? Ein Ortsbesuch.
Der Kontakt war über Eltern vermittelt worden, die ukrainische Familien bei sich aufgenommen und angefragt hatten, ob die Schule deren Kinder aufnehmen würde. Schülerinnen und Schülern helfen, die vor dem Krieg geflüchtet sind? Bei Schülerschaft und im Kollegium der privaten August-Hermann-Francke-Gesamtschule in Detmold – einer freien christlichen Schule – stieß dieser Gedanke sofort auf Offenheit (ungeachtet der Tatsache, dass zum damaligen Zeitpunkt die Ressourcenausstattung durch das Land noch ungeklärt war).
Die Kinder und Jugendlichen planten zusammen mit den Lehrkräften einen Willkommenstag und bemalten Plakate für ihre neuen Mitschüler*innen. Die ukrainischen Kinder sollten sich von Anfang an wohl fühlen. „Uns war es wichtig, diesen Kindern zu helfen“, sagt Schulleiter Ingo Krause. „Wir sind keine Schönwetterchristen. Wir setzen uns in der Not für andere Menschen ein – und helfen, wo wir können.“
Wir helfen, wo wir können. Was uns noch ausmacht: ein kollegiales Miteinander an überschaubaren Schulen, Bekenntnis nicht nur privat, sondern täglich im Schulleben, moderne Ausstattung und Gebäude, gute Bezahlung – 150 freie evangelische Schulen an mehr als 100 Orten in Deutschland bieten vielfältige Berufsaussichten für ausgebildete Lehrerinnen und Lehrer.
Hier geht es nicht um einen Job, sondern um Berufung. Mit unseren gelebten christlichen Werten prägen wir unseren Schulalltag. Wir wollen jungen Menschen tragfähige Antworten auf die Fragen des Lebens anbieten, unsere Glaubensbasis ist die „gemeinsame Basis des Glaubens“ der Evangelischen Allianz in Deutschland. Spüren Sie den Unterschied, wenn Sie gemeinsam mit einem gemeindeübergreifendem Kollegium berufliche Herausforderungen meistern und so bereichernde Glaubenserfahrungen sammeln!
Und so kamen an einem Mittwochmorgen im März auf einen Schlag mehrere Dutzend ukrainische Schülerinnen und Schüler in der Gesamtschule und der zum Komplex gehörenden Berufsschule an, eine bunte Schar von der fünften Klasse bis zur Oberstufe. Jede Klasse nahm zwei Flüchtlingskinder in Empfang und verteilte vorher gepackte Willkommenspakete. Mittlerweile besuchen 42 ukrainische Kinder und Jugendliche die August-Hermann-Francke-Gesamtschule in Detmold. Der Schulträger, der Christliche Schulverein Lippe, nahm insgesamt 150 ukrainische Kinder auf, was bei 3.000 Schülerinnen und Schülern immerhin fünf Prozent der Schülerschaft sind, und übernahm die Finanzierung. Zu den August-Hermann-Francke-Schulen Lippe gehören neben der Gesamtschule unter anderem ein Gymnasium, eine Hauptschule und mehrere Grundschulen.
Zunächst musste einiges an Equipment angeschafft werden, um die Flüchtlingskinder adäquat beschulen zu können. „Wir haben in einer Nacht-und-Nebel-Aktion Tische und Stühle besorgt“, erzählt der stellvertretende Schulleiter Waldemar Reimer. „Außerdem sind wir in unserer Schule zusammengerückt und haben einen Klassenraum für die ukrainischen Kinder frei gemacht.“
Sprachliche Barrieren überwinden
Die sprachlichen Barrieren spielen eine gewichtige Rolle bei der Integration der ukrainischen Kinder und Jugendlichen. An der Gesamtschule wird Russisch als Ergänzungsfach angeboten – somit gibt es Russisch sprechende Schüler*innen und Lehrer*innen –, eine Sprache, die zwar durch den Krieg belastet ist, aber von vielen ukrainischen Schülerinnen und Schülern gesprochen wird. Das klappt im Alltag, aber nicht im Unterricht. Dem können sie deshalb oft nur rudimentär folgen. „Im Mathematikunterricht verwende ich eine Übersetzungsapp“, erklärt Waldemar Reimer. „Ich übersetze die Aufgabenstellung mit der App auf Ukrainisch und zeige den Schüler*innen das Display des Smartphones, sodass sie die Aufgabe dann auch rechnen können.“
Ziel ist aber, dass die jungen Ukrainer*innen Deutsch lernen, um dem Unterricht in normalem Tempo folgen zu können. Deshalb steht das Deutschlernen momentan an erster Stelle, bevor es um die Einstufung in eine bestimmte Klasse oder gar Leistungsbewertung geht. In ihrem separaten Klassenraum bekommen die Kinder und Jugendlichen täglich von der 1. bis zur 4. Schulstunde Deutschunterricht. Für diejenigen, die schon in der Ukraine Englisch gelernt haben, ist das Deutschlernen einfacher, da sie immerhin mit den lateinischen Schriftzeichen vertraut sind.
In den letzten beiden Schulstunden erhalten sie Unterricht auf Ukrainisch – was möglich ist, weil seit einigen Wochen ein ukrainisches Lehrerehepaar an der Gesamtschule beschäftigt wird. Das Land Nordrhein-Westfalen hat zwar eine großzügige Einstellungspraxis für ukrainische Lehrkräfte versprochen, trotzdem den beiden kein Stellenangebot gemacht. Der Christliche Schulverein Lippe erklärte sich bereit, die Finanzierung der beiden Lehrkräfte zumindest befristet zu übernehmen. Wie die Finanzierung im neuen Schuljahr geregelt werden kann, ist noch offen. Die beiden ukrainischen Lehrkräfte sind laut Schulleiter Krause an der Gesamtschule gut integriert. Sie sprechen sehr gut Englisch und können sich somit gut mit ihren deutschen Kolleg*innen austauschen.
Freundschaften schließen
Auch die ukrainischen Kinder und Jugendlichen mussten sich erst kennenlernen. Durch den gemeinsamen Unterricht ging das Kennenlernen ziemlich schnell und Freundschaften wurden geschlossen. Auch die deutschen Schüler*innen gehen offen auf ihre neuen Mitschüler*innen zu und so entstehen auch dort Freundschaften, ohne das viel verbale Kommunikation nötig ist – berichtet Schulleiter Krause. „Vor Corona haben wir Austauschfahrten nach Moldawien gemacht und da mussten sich die Schüler*innen auch auf „Händisch und Füßisch“ unterhalten“, sagt er lächelnd. „Wir haben unseren Schüler*innen gesagt, dass sie sich auch mit den Ukrainer*innen auf „Händisch und Füßisch“ verständigen sollen und das klappt gut.“
Etliche ukrainische Kinder freuen sich, dass sie nun die Chance haben, eine weitere Sprache zu lernen. Sie nehmen motiviert am Deutschunterricht teil. Einige möchten allerdings so bald wie möglich mit ihren Familien in die Ukraine zurückkehren und haben nur wenig Interesse an der neuen Sprache und Schule. Unsicherheit und eine ungewisse Perspektive gehören zum neuen Schulalltag in Detmold.
Der Krieg in der Heimat spielt für die Kinder und Jugendlichen weiterhin eine große Rolle. Die meisten haben zwar nicht viel vom Geschehen mitbekommen, weil sie frühzeitig mit ihren Familien geflüchtet sind. Trotzdem plagt sie Heimweh; manche sehnen sich nach zurückgelassenen Haustieren. Einzelne Kinder sind durch Erlebnisse traumatisiert. Für diese Kinder gibt es einen Ansprechpartner an der Schule.
Dennoch ist die Situation für viele der ukrainischen Schülerinnen und Schüler belastend. „Die Kinder in der fünften Klasse sind happy und laufen eher mit“, erklärt der stellvertretende Schulleiter Reimer. „Für die größeren Kinder ist die Situation anders, da sie die Tragweite besser verstehen. In einer Mathestunde in der achten Klasse saß ein Junge, den Tränen nahe. Er war teilnahmslos und konnte dem Unterricht nicht folgen. Als ich ihn fragte, wie es ihm ginge, erzählte er, dass er Angst um seinen Vater habe, den er in der Ukraine zurücklassen musste.“
Auch die ukrainischen Eltern haben den Wunsch, das Erlebte zu verarbeiten. „Wenn sie ins Sekretariat kommen, um Formalitäten zu erledigen, erzählen sie mir oft ihre Geschichte“, erzählt Schulsekretärin Lydia Wiebe. Der August-Hermann-Francke-Gesamtschule ist es ein Anliegen, dass auch die ukrainischen Eltern mit ins Schulleben eingebunden werden. So bietet sie einen Informationsabend an, der über das deutsche Schulsystem aufklärt – falls es doch ein längerer Aufenthalt wird. Für die Lehrkräfte und Schüler in Detmold wäre das kein Problem: „Für unsere Schule sind die ukrainischen Flüchtlingskinder eine große Bereicherung“, erklärt Schulleiter Krause. Nina Odenius, Agentur für Bildungsjournalismus
„Beruf und Berufung treffen aufeinander“: Eine Lehrerin an einer Bekenntnisschule berichtet