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„Chronische Überlastung“: Lehrkräfte sehen sich am Limit – ihre Schüler auch (Verhaltens-Auffälligkeiten nehmen zu)  

BERLIN. Die Corona-Pandemie und der Lehrkräftemangel haben an deutschen Schulen tiefe Spuren hinterlassen: Eine überwältigende Mehrheit der Lehrkräfte erlebt das Kollegium (92 Prozent) und sich selbst (84 Prozent) derzeit stark oder sehr stark belastet. Für über drei Viertel der Lehrkräfte (79 Prozent) ist Wochenendarbeit die Regel und eine Erholung in der Freizeit kaum noch möglich (60 Prozent). Das sind Ergebnisse des Deutschen Schulbarometers, einer repräsentativen Umfrage der Robert Bosch Stiftung, durchgeführt von forsa. „Die dramatische Überlastung von Lehrkräften, psychisch und physisch, ist zu einem enormen Risiko geworden – für die Lehrkräfte selbst und für die Zukunft funktionierender Schulen insgesamt“, sagt VBE-Bundesvorsitzender Udo Beckmann.

Vier von fünf Lehrkräften in Deutschland fühlen sich stark belastet. Foto: Shutterstock

Die Hälfte der Lehrkräfte leidet der Umfrage zufolge unter körperlicher (62%) oder mentaler Erschöpfung (46%). Mehr als jede zehnte Lehrkraft (13%) plant, im kommenden Schuljahr weniger zu arbeiten und das wöchentliche Deputat zu reduzieren.

„Lehrkräfte stehen enorm unter Druck. Sie müssen die Digitalisierung im Rekordtempo nachholen, Corona-Richtlinien überwachen, Lernrückstände aufarbeiten, einen Fachkräftemangel abfedern und eine steigende Zahl von geflüchteten ukrainischen Kindern und Jugendlichen in die Schulen integrieren“, sagt Dagmar Wolf, Bereichsleiterin Bildung der Robert Bosch Stiftung. Trotz der noch immer sehr hohen Berufszufriedenheit (74%) sei das Belastungserleben der Lehrkräfte in der Pandemie stark angestiegen. „Lehrerin oder Lehrer wird man aus Überzeugung. Aber chronische Überlastung macht auf Dauer krank und unzufrieden. Schulen benötigen deshalb dringend zusätzliches Personal. Dazu gehören Sozialpädagog:innen und Schulsozialarbeiter:innen, aber auch Verwaltungskräfte, die die Schulleitungen entlasten.“

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Verhaltensauffälligkeiten bei Kindern und Jugendlichen weiter angestiegen

Fast alle Lehrkräfte (95 Prozent) geben an, seit Beginn der Corona-Pandemie im Frühjahr 2020 einen deutlichen Anstieg von Verhaltensauffälligkeiten bei ihren Schüler:innen zu beobachten. Im Vergleich zur Befragung des Deutschen Schulbarometers im September 2021 ist dieser Anteil in fast allen Bereichen noch einmal gestiegen. So berichten jetzt 80% der Befragten von einer starken Zunahme von Konzentrations- und Motivationsproblemen (2021: 67 Prozent). Fast doppelt so viele Lehrkräfte (42 Prozent) wie vor einem halben Jahr beobachten aggressives Verhalten bei ihren Schüler:innen. Befragt nach Hilfsangeboten für die Kinder und Jugendlichen verweisen fast drei Viertel der Lehrkräfte auf Angebote der Schulsozialarbeit. Sprechstunden von Schulpsycholog:innen finden an der Hälfte der Gymnasien und Berufsschulen statt, jedoch lediglich an einem Drittel der Haupt-, Real- und Gesamtschulen und an einem Viertel der Grundschulen.

Ein zeitlicher Vergleich zwischen September 2021 und April 2022 zeigt außerdem, dass die Lehrkräfte den Anteil der Schüler:innen mit deutlichen Lernrückständen inzwischen deutlich höher schätzen (September 2021: 33 Prozent, April 2022: 41 Prozent). Das betrifft vor allem Schulen, in denen mehr als die Hälfte der Schülerschaft eine andere Familiensprache als Deutsch spricht. Drei Viertel der Lehrkräfte geben an, dass Schüler:innen nicht die Unterstützung erhalten, die nötig wäre, um vorhandene Lernlücken zu schließen. Ebenso viele sind der Meinung, dass die Förderung des psychischen Wohlbefindens wichtiger sein sollte als das Erfüllen der Lehrpläne.

Zum Zeitpunkt der Befragung im April 2022 stellt die Bewältigung von Corona-Maßnahmen die größte Herausforderung für die Lehrkräfte dar (38 Prozent). Es folgen der Lehrkräftemangel (26 Prozent) und das Verhalten der Schüler:innen (21 Prozent).

VBE-Chef Beckmann kommentiert: „Die Politik steht ohne Wenn und Aber in der Pflicht, endlich lange Versäumtes aufzuarbeiten und jetzt alles Notwendige dafür zu tun, um die Pädagoginnen und Pädagogen in den Schulen zu schützen, die im Kontext von Coronapandemie, massivem Lehrkräftemangel, Integrationsaufgaben, und (verschleppter) Digitalisierung teils Unermessliches leisten. Nur so kann Schule, nur so können wir als Gesellschaft das schaffen, wozu wir verpflichtet sind, nämlich allen Kindern und Jugendlichen einen gerechten Zugang zu qualitativ hochwertiger Bildung und bestmöglicher Förderung ermöglichen.“

Erst Anfang des Jahres hatten in einer im Auftrag des VBE durchgeführten repräsentativen forsa-Umfrage die Hälfte von 1.300 Schulleitungen angegeben, dass es aufgrund der Überlastung in den letzten Jahren vermehrt zu langfristigen Ausfällen in ihrem Kollegium gekommen sei (News4teachers berichtete).

Dazu Beckmann: „Das, was wir an Schule nicht erst seit gestern erleben, ist ein sich selbst verstärkender Teufelskreis. Personalmangel und immer neue Aufgaben führen zu zusätzlichen Belastungen bei den Lehrkräften, die im System sind. Höhere Krankenstände sind zwangsläufig die Folge. Das erhöht wiederum die Arbeitsbelastung der verbleibenden Fachkräfte und gefährdet deren Gesundheit zusätzlich.”

“Die Politik muss das Bildungssystem dauerhaft mit ausreichenden und adäquaten  Ressourcen ausstatten”

Auf der anderen Seite bräuchten Schülerinnen und Schüler gerade in diesen Zeiten, das machten auch die Ergebnisse des Schulbarometers mehr als deutlich, gesunde, belastbare und durch die Bereitstellung der notwendigen Gelingensbedingungen gestärkte Lehrerinnen und Lehrer. “Nur so kann den etwa verstärkt zu beobachtenden Verhaltensauffälligkeiten, den zunehmenden Lernrückständen und vor allem den besorgniserregenden Hinweisen auf das mangelnde psychische Wohlbefinden vieler junger Menschen entgegengewirkt werden. Die Politik muss das Bildungssystem dauerhaft mit ausreichenden und adäquaten  Ressourcen ausstatten, sodass Lehrkräfte wie auch Schülerinnen und Schüler gesund bleiben und eine bestmögliche individuelle Förderung realisierbar ist. Zudem braucht es dringend wirkungsvolle Maßnahmen, um die deutlich zutage tretenden kognitiven und sozial-emotionalen (Zusatz-)Bedarfe bei Kindern und Jugendlichen nachhaltig auszugleichen. Eine bessere Ausstattung mit Lehrkräften und multiprofessionellen Teams, insbesondere mit psychologischer Qualifizierung, wie sie der VBE seit langem fordert, ist dafür unabdingbar. Es kann insgesamt nur um massive Investitionen gehen und dafür brauchen wir ein Sondervermögen Bildung“, sagt Beckmann.

Hintergrund: Der Bundestag hat in der vergangenen Woche ein “Sondervermögen Bundeswehr” beschlossen, um 100 Milliarden Euro in die Streitkräfte zu investieren. News4teachers

Umfrage: Immer mehr langfristige Ausfälle an Schulen – „Überlastung macht Lehrkräfte zunehmend krank“

 

 

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