BERLIN. Die Sommerferien sind für Jugendliche in der Regel ein Grund zur Freude. In einigen Familien drohen aber auch Tragödien: Manche Eltern nutzen den Heimurlaub zur Zwangsverheiratung ihrer Kinder. Die Frauenrechtsorganisation Terre des Femmes hat Lehrkräfte dazu befragt – und erschreckende Rückmeldungen bekommen.
Lehrkräfte wünschen sich mehr Unterstützung an Schulen zur Verhinderung von Frühehen und Zwangsverheiratungen. Das hat eine bundesweite Umfrage der Frauenrechtsorganisation Terre des Femmes ergeben, wie die zuständige Referentin Myria Böhmecke sagte. Ihre Organisation habe die Umfrage an den Schulen gestartet, weil Lehrerinnen und Lehrer oft der einzige Anlaufpunkt seien für betroffene Kinder und Jugendliche. «Wir haben dort einen großen Bedarf festgestellt. Lehrkräfte möchten geschult werden, um zu wissen, was sie tun können, um zu helfen, ohne das Mädchen oder den Jungen zu gefährden», schilderte Böhmecke.
Bei der anonymen Online-Befragung seien 188 Fälle angegeben worden, bei denen Lehrer oder Sozialarbeiterin sich sicher gewesen seien, dass eine Frühehe vorliege oder konkret geplant sei. In weiteren 191 Fällen galt diese für eine Zwangsverheiratung. Zudem nannten die Befragten 682 Verdachtsfälle von Frühehen und 786 von Zwangsverheiratung. «Alles zusammen genommen ergibt das 1847 Fälle von angedrohten oder vollzogenen Früh- und Zwangsverheiratungen an deutschen Schulen», erklärte Böhmecke.
«Wir gehen davon aus, dass das Ausmaß deutlich größer ist als erwartet»
Zwar handele es sich bei den Zahlen nicht um eine repräsentative Studie. Die Zahlen seien jedoch aufschlussreich. «Wir fordern seit Jahren eine bundesweite Studie», sagte sie. Die jüngsten Angaben vom Bundesfamilienministerium stammen nach Angaben der Organisation aus dem Jahr 2008. Damals seien 3443 Fälle von Frühehen oder Zwangsverheiratungen registriert worden. «Wir gehen davon aus, dass das Ausmaß deutlich größer ist als erwartet.»
Die im April 2022 veröffentlichte Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) weist deutlich geringere Zahlen auf. Demnach wurden im Berichtsjahr 2021 bundesweit 73 Fälle von Zwangsheirat von der Polizei erfasst, davon 46 Versuche. Von den insgesamt 79 registrierten Opfern einer versuchten oder vollzogenen Zwangsverheiratung sind 71 Mädchen bzw. Frauen.
Die jüngsten der verzeichneten Betroffenen waren zwischen sechs und 14 Jahre alt, beide Fälle weiblich, bei beiden blieb es jedoch beim Versuch. Die größte Gruppe der von Zwangsheirat bedrohten oder betroffenen Personen stellten Jugendliche zwischen 14 und 18 Jahren dar. Fast ausnahmslos waren die Betroffenen, bei denen die Zwangsverheiratung bereits vollzogen war, weiblich (34 von insg. 36). Versucht bzw. begangen wurden diese Straftaten von insgesamt 100 Tatverdächtigen, 73 davon männlich. Schaut man sich auch hier die Altersstruktur an, waren die meisten der mutmaßlichen TäterInnen zwischen 30 und 60 Jahre alt. Die große Mehrheit der Opfer einer Zwangsverheiratung (68/79) war mit den Tatverdächtigen verwandt oder durch Ehen/Partnerschaften verbunden.
«Früh- und Zwangsverheiratungen sind zumeist mit Scham oder Tabus behaftet: Außenstehende werden selten ins Vertrauen gezogen»
„Dies sind die offiziell geführten Zahlen. Doch hinter jedem erfassten Einzelfall steht eine Vielzahl weiterer. Früh- und Zwangsverheiratungen sind zumeist mit Scham oder Tabus behaftet: Außenstehende werden selten ins Vertrauen gezogen“, so heißt es bei Terre des Femmes.
In Berlin versucht die Organisation etwa mit einem Theaterprojekt an Schulen aufzuklären und auf Hilfsangebote aufmerksam zu machen. Mit dem Beginn der Sommerferien gewinnt das Thema an Brisanz: Nach Einschätzung der Organisation ist der Heimaturlaub für Familien aus streng patriarchalischen Ländern auch Anlass, Töchter an vorher ausgesuchte Männer zu verheiraten.
In den Tagen vor den Sommerferien, die in Berlin am 7. Juli beginnen, verstärkt Terre des Femmes darum die Präventionsarbeit in der Hauptstadt: An fünf Schulen in den Bezirken Marzahn-Hellersdorf, Mitte und Neukölln soll es während der «weißen Woche» – in Anlehnung an ein weißes Hochzeitskleid – Workshops und die Gelegenheit für Gespräche geben. «Diese Aktionen wollen wir künftig bundesweit vor den Sommerferien anbieten», erklärte Böhmecke. News4teachers / mit Material der dpa
Abflug ohne Wiederkehr: Wenn in den Sommerferien die Zwangshochzeit droht…