Abflug ohne Wiederkehr: Wenn in den Sommerferien die Zwangshochzeit droht…

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BERLIN. Sommerferien sind Reisezeit. Für manche Schülerinnen mit ausländischen Wurzeln endet der Trip ins Heimatland aber gegen ihren Willen mit einer Heirat. Zwangsehen seien keine Einzelfälle, warnen Hilfsorganisationen.

Abflug ohne Wiederkahr: Jedes Jahr werden Mädchen im Ausland zwangsverheiratet. Foto: Rainer Sturm / pixelio.de

Bloß nicht ins Flugzeug steigen! Was nach einem klimafreundlichen Ratschlag für die Sommerferien klingt, kann für Schülerinnen mit ausländischen Wurzeln eine ganz andere Bedeutung haben. Manchen jungen Mädchen drohe im Heimatland ihrer Eltern die Zwangsverheiratung, sagt Petra Koch-Knöbel, Frauenbeauftragte im Berliner Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg. Jedes Jahr blieben nach den Ferien einige Plätze in Klassenzimmern leer.

Auch bei der Frauenrechtsorganisation Terre des Femmes kennt Referentin Myria Böhmecke das Risiko Sommerferien. Oft steigen kurz vorher die Anfragen verängstigter Mädchen in Hilfs- und Beratungsstellen. «Zwangsverheiratungen in Berlin sind keine Einzelfälle», betont Böhmecke. Sie drohten Mädchen und jungen Frauen auch bundesweit noch in der zweiten und dritten Migranten-Generation. Es sei nicht allein ein islamisches Phänomen, sondern liege vor allem an streng patriarchalischen Strukturen in Familien.

«Die meisten Mädchen haben eine Ahnung, um was es geht. Aber viele glauben, dass sie vor Ort noch Nein sagen können oder dass es nur um eine Verlobung geht», berichtet Böhmecke. «Das stimmt aber oft nicht. Sobald sie dort sind, werden ihnen der Pass, das Rückflugticket und das Handy abgenommen. Sie werden entweder eingesperrt oder stehen unter massiver Kontrolle.»

Von der Schule abgemeldet – ohne dass jemand nachfragt

Verlässliche Zahlen für das Ausmaß von Zwangsehen gibt es nicht, nur Annäherungen. Im November 2018 veröffentlichte der Berliner Arbeitskreis gegen Zwangsverheiratung die jüngsten Zahlen aus einer Umfrage bei rund 1000 Hilfseinrichtungen und Schulen in der Hauptstadt. Danach gab es 2017 in 570 Fällen Beratungen zum Thema Zwangsehe.

Die meisten Betroffenen waren Mädchen zwischen 16 und 21 Jahren mit arabischen und türkischen Wurzeln. Familien stammten aber auch aus kurdischen Gebieten, vom Balkan, aus Bulgarien und Rumänien. Es gab jüdische, jesidische und christliche Elternhäuser. Rund zwölf Prozent der betroffenen Mädchen waren sogar jünger als 16 Jahre. In einer kleinen Minderheit waren auch Jungen von Zwangsheirat betroffen oder bedroht, vor allem, wenn sie homosexuell waren. 117 Mal wurde eine Zwangsheirat nach der Berliner Umfrage vollzogen, 92 Mal war sie konkret geplant – vor allem im Ausland. 113 Mal wurde eine Zwangsehe befürchtet. «Wir gehen davon aus, dass die Dunkelziffer viel höher ist», sagt Koch-Knöbel.

Bundesweite Umfrage-Zahlen sind mehr als zehn Jahre alt. 2008 wurden für eine Studie des Bundesfamilienministeriums fast 3500 Beratungen erfasst. Davon fanden 1771 vor einer Zwangsehe statt, 937 danach und 235 sowohl vorher als nachher. Auch diese Annäherung gilt nicht als repräsentativ. Terre des Femmes hält eine neue Studie für dringend nötig und schätzt, dass die Zahlen heute noch höher liegen.

Auch mit deutscher Staatsangehörigkeit sei es nach einer Zwangsehe schwer, zurückzukehren, berichtet Referentin Böhmecke. «Daher raten wir dringend davon ab, in ein Flugzeug zu steigen. Auch, wenn es nur um einen Verdacht geht, dass eine Zwangsheirat geplant ist.» Denn ohne Geld kämen die Mädchen im Ausland nicht zur deutschen Botschaft. Und die Polizei dort bringe sie meist sofort wieder zu ihren Familien zurück.

Nein zu sagen sei aber oft gar nicht so einfach, betont Böhmecke. «Mädchen werden manchmal unter falschen Versprechungen in das Herkunftsland ihrer Eltern gelockt. Ihnen wird zum Beispiel gesagt, dass sie nur in die Ferien fahren.» Oder aber es werde sozialer Druck ausgeübt: Der Großvater sei sehr krank und man wolle ihn zum letzten Mal besuchen.

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Für Myria Böhmecke wird immer noch viel zu wenig über Zwangsehen geredet. Erst der Fall Hatun Sürücü habe in Berlin eine erste Debatte entfacht und Beratung und Aufklärung erleichtert. 2005 war die Berliner Türkin von ihrem Bruder ermordet worden. Zuvor hatte ihre Familie sie als 16-Jährige in der Türkei mit einem Cousin verheiratet. Sürücü floh schwanger nach Berlin zurück und baute sich mit ihrem kleinen Sohn ein eigenes Leben auf. Sie war Anfang 20, als ihr Bruder sie erschoss.

Die Geschichte dieses «Ehrenmords» zeigt zur Zeit der Kinofilm «Nur eine Frau». Vor dem Start im Mai sagte Produzentin Sandra Maischberger, dass Mädchen und Jungen aus solchen Ehe-Zwängen kaum herauskämen. «Ich habe mich gefragt, wieso wir da eigentlich so wenig hingucken.»

Für Böhmecke hat dieses Desinteresse Folgen. Wenn junge Mädchen nach den Ferien nicht wiederkämen, passiere oft nichts. Eltern erzählten geschönte Geschichten, wenn sie ihre Töchter von der Schule abmeldeten, zum Beispiel über einen Ausbildungsplatz. «Die Jugendämter sind häufig mit anderen Gewaltvorfällen beschäftigt und überfordert», sagt die Expertin. «Zwangsverheiratungen im Ausland, für die es häufig keine Beweise und Zeugen gibt, fallen deshalb oft hinten runter.»

Frauenbeauftragte Petra Koch-Knöbel bietet in Berlin Fortbildungen für Lehrer und Schulsozialarbeiter an, speziell vor den Sommerferien an. Das Interesse daran sei bisher eher verhalten, sagt sie. «Wir würden uns mehr Problembewusstsein wünschen.»

Schule und Jugendamt hätten jedoch wenig Möglichkeiten, einzugreifen, sagt Myria Böhmecke. Vor allem, wenn vorher keine Gewaltsituation ersichtlich war, die Eltern das Sorgerecht hätten und es keine Beweise für eine Zwangsheirat gebe. Motive der Eltern seien oft Ehrbegriffe aus ihrem Herkunftsland. An solchen Traditionen werde oft festgehalten, vielleicht besonders, wenn sich eine Familie in Deutschland nicht wirklich angekommen fühle.

Mädchen müssen keusch sein und sich unterordnen

Was zähle, sei in solch traditionellen Vorstellungen nicht das einzelne Mädchen, sondern die Gemeinschaft und die vermeintliche Familienehre. Mädchen müssten keusch sein und sich unterordnen, Jungen seien Aufpasser ihrer Schwestern und später das Familienoberhaupt. «Der psychische Druck kann enorm sein», berichtet Böhmecke. «Manchmal wird gedroht, die 13-jährige Schwester zu verheiraten, wenn ein älteres Mädchen nicht will.»

Mit der Weigerung, in ein Flugzeug zu steigen, beginnt für junge Mädchen ein noch größeres Problem. Wohin? Zwar gibt es in Berlin den Mädchennotdienst und Hilfseinrichtungen wie Papatya und Wildwasser. «Die Mädchen haben aber häufig große Angst, gefunden zu werden. Es ist auch schwierig, sich dauerhaft vor der gesamten Familie zu verstecken», sagt Böhmecke. «Sie kommen nicht per se ins Zeugenschutzprogramm.» Außerdem wollten die Mädchen die Familie gar nicht verlassen, sondern hofften bis zum Schluss, dass es eine Einigung gibt und sie den Mann nicht heiraten müssen. «Das aber ist oft ein Irrtum.»

Seit 2017 gilt in Deutschland das Gesetz zur Bekämpfung von Kinderehen. «Es ist unserer Einschätzung nach in der Praxis noch nicht angekommen», urteilt Böhmecke. Es fehle an Leitfäden und Schulungen für Behörden und auch Präventionsmaßnahmen und Aufklärung in Schulen. «Bisher sind auch nur sehr wenige Fälle bekannt geworden, in denen die Ehe wegen der Minderjährigkeit des Mädchens aufgehoben wurde», ergänzt sie. Von Ulrike von Leszczynski, dpa

Der Beitrag wird auch auf der Facebook-Seite von News4teachers diskutiert.

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Ignaz Wrobel
4 Jahre zuvor

Danke für den sehr offenen Beitrag über die Darstellung der Problematik der Zwangsverheiraten von Minderjährigen, die sich zum Teil auch gegen deren sexuelle Orientierung richtet.
Und dann sind diese Personen mit einmal weg, verschwinden aus unserem Leben, um irgendwo im nirgendwo in archaischen Strukturen ein unwürdiges Dasein zu leben.
Es handelt sich um schwere Verstöße gegen die Würde der Betroffenen, die sich mit der Situation konfrontiert sehen, mit einem Menschen verheiratet zu werden, den sie zum Teil noch nicht einmal kennen, da diese Heiraten von den Eltern ausgehandelt werden, um irgend welche Familienbande zu knüpfen.

Das geht zu, wie bei den Habsburgern aus Österreich und auch aus anderen Ständen im 15. bis 19. Jahrhundert.
Unsere Vorvorfahren rebellierte in der Sturm und Drangphase und der sich anschließenden Aufklärung gegen die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse,um aus dieser Zwangssituation herausbrechen zu können.
Mit der nach Klingers benannter Komödie „Sturm und Drang“, die auch Werke wie Schillers „Die Räuber“, Goethes „Die Leiden des jungen Werther“ hervorbrachte, ist diese Phase um 1765 bis 1785 relativ gut eingrenzbar . In der Musik spiegelte sich diese Phase in der Musik von Haydn, Mozart, Vanhal , Joseph Martin Kraus, Frantisek Antonin Rosety um 1770 bis 1785 mit einer dynamischen Veränderung der Musik zu einer deutlich stärker ausgeprägten Emotionalität wieder, die sich deutlich von der Musik eines Stamitz, Salieri oder eines Cannabich abhob.

plus
4 Jahre zuvor
Antwortet  Ignaz Wrobel

Ich gebe Ihnen weitestgehend recht mit der Einschränkung, dass mir der Artikel etwas zu sehr um den heißen Brei herum redet. Gerade in solchen Fällen muss man schonungslos die Kulturen benennen, deren Rückschrittigkeit solche Verbrechen gutheißen oder fördern.

Sabine
4 Jahre zuvor
Antwortet  Ignaz Wrobel

Für den ungewöhnlich offenen Beitrag möchte ich auch danken.
Warum gibt es in Deutschland ein Gesetz zur Bekämpfung von Kinderehen, wenn es dann heißt, «Bisher sind auch nur sehr wenige Fälle bekannt geworden, in denen die Ehe wegen der Minderjährigkeit des Mädchens aufgehoben wurde»
Die Erklärung, „Es fehle an Leitfäden und Schulungen für Behörden und auch Präventionsmaßnahmen und Aufklärung in Schulen“ kommt mir reichlich dünn vor. Ich frage mich, ob überhaupt der ernsthafte und mutige Wille besteht, solche Zwangsehen aufzuheben und sich dadurch „mit arabischen und türkischen Wurzeln“ anzulegen.

OlleSchachtel
4 Jahre zuvor

Mir ist zwar das Thema bekannt, da eine ehemalige Schülerin betroffen ist, aber mir bringt in Ba-Wü eine Fortbildung in Berlin herzlich wenig. Wo kann ich mich hinwenden? Wie kann ich reagieren? Die Eltern tun es ab als Lüge des Kindes und behaupten nur die Großeltern zu besuchen. Ist das Kind erst im Ausland, haben die deutschen Behörden keine Chance mehr. Traurig ist, dass die Kinder sind in der Schule zwar öffnen und auch von Zwangsehen ihrer Freundinnen ( die 13-14 Jahre alt sind) erzählen, aber als Lehrerin weiß ich nicht, wohin sich das Kind wenden soll.

Philologin vom Dienst
1 Jahr zuvor

Ich wünschte, alle Betroffenen kennten den Löffeltrick: Bei Verdacht, z. B. es scheint kein Rückflugticket für die betroffene Person zu geben, einen Teelöffel seitlich in die Unterwäsche klemmen. Das Spiel mitspielen bis zu Sicherheitskontrolle, wo dies natürlich auffällt. Leise kurz um Hilfe bitten. Geschultes Personal wird die betroffene Person in einen separaten Raum bitten und ihr dort weiterhelfen, so dass die Familie außen vor ist.
Das bedeutet natürlich einen Bruch mit der Familie, aber diese hat ja bereits das Vertrauen des Kindes für eigene Zwecke missbraucht und die Bindung aufgekündigt, plant sie doch wohl meist, selbst nach D zurückzukehren und das Kind in einen ihm fremden Land bei fremden Menschen zurückzulassen.