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Zehntausende Fachkräfte fehlen für Rechtsanspruch auf Ganztagsplatz in der Grundschule

GÜTERSLOH. Seit vergangenem Herbst steht fest: Jedes Grundschulkind hat künftig ein Recht auf Ganztagsbetreuung. In einer Studie wird aber Alarm geschlagen: Wenn die Politik nicht bald handelt, bleibt das ein leeres Versprechen – denn es fehlt am Personal.

Was nützt ein Rechtsanspruch, wenn es keinen Platz gibt? Foto: Shutterstock

Jedes einzelne Grundschulkind hat künftig einen Anspruch auf Ganztagsbetreuung – formal jedenfalls. Für die Umsetzung bis Ende des Jahrzehnts fehlen der Studie «Fachkräfte-Radar für KiTa und Grundschule 2022» zufolge aber Zehntausende Erzieherinnen und Sozialpädagogen in Deutschland. Die Bundesländer müssten gemeinsam mit allen Verantwortlichen schon jetzt handeln, um dem steigenden Personalmangel in Grundschulen und Horten vorzubeugen, sagt Anette Stein von der Bertelsmann Stiftung, die die Studie am Dienstag veröffentlichte.

Insgesamt könnten mehr als 100.000 pädagogische Fachkräfte fehlen. Vor allem im Westen wird die Umsetzung des Rechtsanspruchs demnach schwierig, im Osten sollte dagegen der vergleichsweise schlechtere Personalschlüssel auf West-Niveau verbessert werden. Am Geld scheitert es der Studie zufolge nicht – es gibt schlicht zu wenige Menschen, die den Beruf ergreifen wollen.

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«NRW kann den Rechtsanspruch nicht für alle Kinder bis 2030 stemmen, denn der Fachkräftebedarf ist bis dahin kaum zu decken»

Bund und Länder hatten im vergangenen September einen Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung in der Grundschule beschlossen, der schrittweise eingeführt wird. Ab dem Schuljahr 2026/2027 greift die Regelung bei Kindern der 1. Klasse, ab 2029/2030 bei allen Klassen.

Die Ausgangslagen in den Bundesländern unterscheiden sich stark: Im Osten nutzen bereits heute im Schnitt 83 Prozent der Grundschulkinder ein Ganztagsangebot. Dazu kommen 3,5 Prozent, die ein Übermittagsangebot bis 14.30 Uhr besuchen. Im Westen sind es dagegen nur 47 Prozent im Ganztag und 18 Prozent im Übermittagsangebot. Dafür hinkt die Personalausstattung im Osten hinterher: In Horten etwa muss eine Vollzeit-Fachkraft dort rechnerisch mehr als doppelt so viele Kinder betreuen wie eine Kollegin oder Kollege im Westen.

Ein gutes Zeugnis stellt die Studie nur Berlin, Hamburg und Thüringen aus. Dort gibt es bis Ende des Jahrzehnts laut der Prognose genügend Personal, um jedem einzelnen Grundschulkind einen Ganztagsplatz anzubieten – und das bei einem guten Betreuungsschlüssel.

Auch alle weiteren ostdeutschen Bundesländer können bis 2030 jedem Kind ein Ganztagsangebot machen. Allerdings plädiert die Bertelsmann Stiftung dafür, die personelle Situation an Grundschulen und Horten zu verbessern. Würde man sich an Westdeutschland orientieren, wären laut der Prognose dafür rund 26.000 zusätzliche Fachkräfte nötig. Die könnten laut der Studie mit Bundesmitteln aus dem Ganztagsförderungsgesetz finanziert werden.

Die westdeutschen Bundesländer müssten sich dagegen auf den Platzausbau konzentrieren. Sollte jedem einzelnen Kind in der Grundschule ein Ganztagsangebot gemacht werden, bräuchte es bis 2030 aber mehr als eine Million zusätzliche Plätze und rund 76.000 Fachkräfte. Selbst wenn nur die heutige Quote Ostdeutschlands – wo mehr als vier von fünf Grundschülern ganztags betreut werden – angepeilt würde, fehlten noch 55.000 Fachkräfte. Und auch wenn ein Teil der Kinder weiter das Übermittagsangebot nutze, bliebe noch ein Minus von 34.000 Fachkräften, heißt es in der Studie.

Beispiel Nordrhein-Westfalen: «NRW kann die Umsetzung des Rechtsanspruchs nicht für alle Kinder bis 2030 stemmen, denn der Fachkräftebedarf ist bis dahin kaum zu decken», sagt Kathrin Bock-Famulla, Hauptautorin des «Fachkräfte-Radar für KiTa und Grundschule 2022». In NRW nutzen demnach derzeit 49 Prozent der Grundschulkinder ein Ganztagesangebot. Weitere 19 Prozent besuchen ein «Übermittagsangebot» bis 14.30 Uhr. Das entspricht jeweils ungefähr dem westdeutschen Schnitt.

Die Studie spielt mehrere Szenarien durch: Um bis Ende des Jahrzehnts allen Grundschulkindern einen Ganztagsplatz bieten zu können, fehlen gut 260.000 Plätze und 17.000 Fachkräfte. Würde man nur die heutige Quote der ostdeutschen Bundesländer – wo mehr als vier von fünf Kindern Ganztagsbetreuung bekommen – anpeilen, wären es noch 13.000 Fachkräfte. Und sollte ein Teil der Kinder weiterhin die kürzere Übermittagsbetreuung in Anspruch nehmen, wären es noch 7.000. Laut Prognose kommen aber bis 2030 nur um die 3.000 neue Fachkräfte dazu.

NRW brauche sofort einen Masterplan für ein ausreichendes und professionelles Fachkräfteangebot, heißt es. Den gibt es bislang nicht: Im Koalitionsvertrag der neuen schwarz-grünen Regierung in NRW heißt es, man wolle eine «Fachkräfte- und Qualitätsoffensive» bei der frühkindlichen Bildung und beim schulischen Ganztag. Details? Unklar.

«Unser frühkindliches Bildungssystem steht vor dem Kollaps. Wir müssen jetzt unbedingt handeln»

Die Zahlen zeigten, «dass unser frühkindliches Bildungssystem vor dem Kollaps steht und wir jetzt unbedingt handeln müssen», sagt Doreen Siebernik, Vorstandsmitglied der Bildungsgewerkschaft GEW. Kolleginnen und Kollegen in Kitas und Schulen seien nach den kräftezehrenden Herausforderungen der vergangenen Jahre am Limit. «Die Arbeitsbelastung ist vielfach zu hoch. Dieser Zustand ist nicht mehr akzeptabel», sagte sie.

Expertin Anette Stein von der Bertelsmann Stiftung forderte eine «langfristig angelegte Fachkräfteoffensive von Bund und Ländern». Für eine bessere und bundeseinheitliche Ausstattung müsse die Politik jetzt gesetzliche Rahmenbedingungen, genügend Ausbildungskapazitäten und Anreize für den Einstieg ins Berufsbild schaffen. Auch GEW und Deutscher Gewerkschaftsbund (DGB) plädierten für eine «Fachkräfteoffensive».

Nicole Gohlke, bildungspolitische Sprecherin der Linksfraktion im Bundestag, sieht dabei auch den Bund in der Bringschuld. Der dürfe sich hier nicht immer mit Verweis auf die Länderhoheit wegducken, sondern müsse seinen Beitrag leisten. News4teachers / mit Material der dpa

Rechtsanspruch auf Ganztag für Grundschüler kommt – VBE: Personal fehlt

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