BERLIN. Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger hat junge Menschen ermuntert, eine Ausbildung zu ergreifen und sich am Beginn des Berufslebens nicht zwingend auf ein Studium zu fokussieren. «Wir müssen deutlich machen, dass eine Ausbildung einem Studium als Karrierestart in nichts nachsteht», sagte die FDP-Politikerin der «Neuen Osnabrücker Zeitung» vor dem Hintergrund des Mangels an Fachkräften in vielen Berufen. Beide Wege seien gleichwertig, behauptet sie – wie kommt sie darauf? Hintergrund ist offensichtlich eine Klientel-Kampagne der Liberalen.

Nach dem Europäischen Qualifikationsrahmen, der Abschlüsse innerhalb der EU vergleichbar machen soll, ist die Sache klar: Eine zweijährige Berufsausbildung, die auf einen mittleren Schulabschluss folgt, liegt auf Level drei (von insgesamt acht). Eine dreijährige Ausbildung, die mit der Fachhochschulreife oder der Hochschulreife einher geht, liegt auf Level vier. Studienabschlüsse sind in der Rangliste deutlich höher angesiedelt: der Bachelor auf Level sechs, der Master auf Level sieben. An der Spitze liegt die Promotion, die ohne Studienabschluss nicht möglich ist.
Die Rangfolge hat Auswirkungen – etwa im Lehrerberuf. Bundesweit können Tausende von Lehrerstellen nicht mehr besetzt werden, weil jahrelang zu wenig ausgebildet wurde. Deshalb werben die Kultusminister um sogenannte Seiteneinsteiger, Menschen also, die zwar kein Lehramtsstudium plus anschließendes Referendariat vorweisen können, die aber zumindest ein fachwissenschaftliches Studium mit dem Master abgeschlossen haben. Ist das alles Quatsch? Könnten Handwerker oder Kaufleute genauso in die Schulen kommen, um dort Schülerinnen und Schüler in Fächern wie Deutsch, Mathematik oder Englisch zu unterrichten?
„Ein Meister muss genauso viel wert sein wie ein Master” – sagt der FDP-Landesvorsitzende Joachim Stamp
Aus Sicht der FDP offensichtlich schon. Die nordrhein-westfälische FDP hatte nämlich vor der Landtagwahl (die sie dann allerdings krachend verlor und aus der Landesregierung flog) erklärt, sie möchte die Gleichwertigkeit beruflicher und akademischer Bildung in der Landesverfassung verankern. „Ein Meister muss genauso viel wert sein wie ein Master“, sagte der FDP-Landesparteichef und damalige Jugendminister Joachim Stamp. Vorbild für diese Initiative sei die schweizerische Bundesverfassung.
Darin heißt es (Artikel 61a): „Bund und Kantone sorgen gemeinsam im Rahmen ihrer Zuständigkeiten für eine hohe Qualität und Durchlässigkeit des Bildungsraumes Schweiz. Sie koordinieren ihre Anstrengungen und stellen ihre Zusammenarbeit durch gemeinsame Organe und andere Vorkehren sicher. Sie setzen sich bei der Erfüllung ihrer Aufgaben dafür ein, dass allgemein bildende und berufsbezogene Bildungswege eine gleichwertige gesellschaftliche Anerkennung finden.“
Tatsächlich hat das praktische Konsequenzen für die Bildung in der Schweiz: Die gymnasiale Maturitätsquote (wie die Abiturientenquote dort heißt) liegt bei lediglich 20 Prozent; auch wenn andere Zugänge nochmal ebenso viele Studierende an die Hochschulen bringen, bleibt der Anteil der akademischen Abschlüsse im internationalen Vergleich gering.
„Es muss wieder möglich sein, mit einem mittleren Bildungsabschluss einen verantwortungsvollen Job in unserer Gesellschaft ausüben zu können“, begründete Stamp den Vorstoß seiner Partei. Ein wichtiges gesellschaftspolitisches Zeichen auf dem Weg sei die Öffnung der Polizeidienstlaufbahn auch für Realschulabsolventen, die die schwarz-gelbe Koalition auf den Weg gebracht hatte. Der Schulversuch läuft im August an.
Die FDP wolle aber darüber hinaus gehen und mittlere Bildungsabschlüsse grundsätzlich aufwerten, erläuterte Stamp. Deshalb habe die Landespartei jüngst in einem Beschluss festgehalten: „Kompetenzen und Fähigkeiten müssen Anerkennung finden – unabhängig davon, auf welchem Weg diese erworben wurden.“ An Hochschulen erworbene Kompetenzen sollten daher für die berufliche Bildung genauso anerkannt werden wie umgekehrt.
Wörtlich hieß es dazu im Wahlprogramm der Liberalen: „Wir brauchen starke Schulen für den gymnasialen Bildungsgang und für den akademischen Nachwuchs. Aber ebenso brauchen wir starke Schulen, die hochwertige mittlere Schulabschlüsse vergeben und bestmöglich auf eine berufliche Ausbildung vorbereiten und damit helfen, unseren Fachkräftenachwuchs zu sichern.“
Dafür sei eine Aufwertung der mittleren Schulabschlüsse unumgänglich. „Eine erhebliche Verbesserung der Berufsorientierung an weiterführenden Schulen wollen wir erreichen, indem wir Schülerinnen und Schülern verstärkt die Möglichkeit geben, bereits während ihrer Schulzeit praktische Erfahrungen in ganz unterschiedlichen Bereichen zu sammeln. So sollen auch die beruflichen Möglichkeiten und Entwicklungschancen in Ausbildungsberufen bekannter werden. Auch darüber hinaus wollen wir im Zuge der Berufsberatung über die Karriere- und Verdienstmöglichkeiten im Handwerk und anderen Ausbildungsbranchen informieren, denn die guten Perspektiven, die viele Ausbildungsberufe bieten, werden mitunter nicht richtig eingeschätzt.“
Weiter betonte die FDP: „Um ein gesellschaftliches Umdenken hinsichtlich der Gleichstellung von beruflicher und akademischer Bildung zu erreichen, müssen die Haupt-, Real- und Sekundarschulen in einer Qualitätsoffensive und einem Sonderinvestitionsprogramm Starke Mitte gestärkt werden. Damit wollen wir konkret sowohl eine Aufstockung von Personal und moderner Ausstattung vorantreiben als auch den Ausbau der Vernetzung von Schulen und Ausbildungsbetrieben. Wir wollen die Anerkennung für mittlere Bildungsabschlüsse weiter stärken, so wie wir bereits Realschülerinnen und Realschülern einen Weg in den Polizeiberuf ermöglicht haben.“
Offensichtlich versucht die FDP, damit die Interessen ihrer Klientel zu bedienen – insbesondere die von Handwerksbetrieben. Verbandspräsident Hans Peter Wollseifer forderte unlängst angesichts des Fachkräftemangels in seiner Branche eine „Bildungswende“ in Deutschland. Wollseifer sagte: „Wir gehen von einer Viertelmillion Fachkräften aus, die im Handwerk fehlen. Uns fehlen in der Ausbildung sehr viele junge Leute.“ Ziele etwa beim Einbau von Wärmepumpen seien dann schwierig zu schaffen.
„Der Fachkräftemangel beschäftigt Unternehmen mittlerweile mindestens so sehr wie Lieferkettenprobleme“
„Wir sind bereit, die Ausbildungskapazitäten hochzufahren“, sagte der Präsident des Zentralverbands des Deutschen Handwerks. „Das Problem liegt woanders: Unsere Betriebe bieten schon seit Jahren Tausende Ausbildungsplätze und damit Ausbildungschancen an, die aber nicht genutzt werden. Wir brauchen Bewerberinnen und Bewerber dafür. Das ist das Problem. Von daher fordern wie die Politik auf, sich unsere Forderung nach einer Bildungswende zu eigen zu machen.“ Die Crux des Ansinnens: Gesamtgesellschaftlich besteht überhaupt kein Bedarf an einer „Bildungswende“ – unter Akademikern herrscht praktisch Vollbeschäftigung.
Die FDP, die damit erst einmal in Nordrhein-Westfalen gescheitert ist, versucht es jetzt offenbar über den Bund, genauer: über das Bundesbildungsministerium, dessen Leitung nach der letzten Bundestagswahl die FDP-Politikerin Stark-Watzinger übernommen hat. „Der Fachkräftemangel beschäftigt Unternehmen mittlerweile mindestens so sehr wie Lieferkettenprobleme“, erklärt die Ministerin (deren eigene zwei Töchter allerdings studieren, wie sie der „Bild“ unlängst verriet). Mit einer Initiative wolle sie der beruflichen Bildung „neuen Schub geben“.
Vorbild Schweiz? Weil zu wenige Akademiker dort die Hochschulen verlassen, muss das Land entsprechend qualifizierten Nachwuchs – übrigens auch Lehrkräfte – im Ausland anwerben. News4teachers / mit Material der dpa
„Überakademisierung ist ein Irrweg!“ Handwerkspräsident fordert Wende in der Bildung
