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Mädchen jahrelang eingesperrt – Der Fall in Attendorn schlägt Wellen: Sind die Jugendämter zu überlastet, um Kinderschutz zu gewährleisten?

DÜSSELDORF. Der Fall des jahrelang eingesperrten und von der Außenwelt isolierten Mädchens im sauerländischen Attendorn hat im nordrhein-westfälischen Landtag parteiübergreifend Entsetzen ausgelöst. Zugleich wurden kritische Fragen in Richtung des zuständigen Jugendamts laut. Der Fall wirft ein Schlaglicht auf die Situation der Kinder- und Jugendhilfe überhaupt: Eine Studie hatte bereits 2018 ergeben, dass “die derzeitigen strukturellen Rahmenbedingungen im System eine professionelle sozialpädagogische Arbeit behindern”.

Kinderschutz wird immer (nur) dann zum Thema, wenn besonders krasse Misshandlungsfälle öffentlich werden – wie der aktuell in Attendorn (Symbolfoto). Foto: Shutterstock

Der Fall in Attendorn schlägt Wellen. Abgeordnete im Landtag NRW wollen wissen, wieso es der Mutter des Kindes gelingen konnte, mit der bloßen Behauptung, ins Ausland verzogen zu sein, jahrelang unbehelligt zu bleiben. Nach dpa-Informationen hatte die Krankenkasse dem Jugendamt des Kreises Olpe auf Anfrage im Oktober 2020 mitgeteilt, dass die Mutter – die mit ihrer Tochter angeblich 2015 nach Italien gezogen war – weiterhin Beiträge in Deutschland zahlt. Zudem hatte das Jugendamt bereits im Herbst 2020 einen mysteriösen Brief erhalten, der auf das heute achtjährige Kind hinwies: Der Text war aus ausgeschnittenen Buchstaben zusammengesetzt und aus Sicht des Mädchens geschrieben.

Sechs Wochen später folgte laut den bisherigen Ermittlungen ein zweiter anonymer Brief, diesmal angeblich von Freunden, Bekannten und Nachbarn verfasst. Im Herbst 2021 gab es eine weitere Meldung beim Jugendamt mit konkreten Hinweisen. Erstmals wurde nach dpa-Informationen nun die Polizei vom Amt informiert. Die Mitarbeiterin berichtete demnach der Polizei von einem “ominösen” Hinweis auf ein gefangenes Mädchen – und fragte, ob man das Haus durchsuchen könne. Die Polizei fragte im Gegenzug, ob das Jugendamt denn schon selbst vor Ort gewesen sei. Antwort: Nein. Die Polizei bat das Jugendamt, erst mal selbst zu recherchieren. Danach habe sich das Amt – so die Polizei – lange Zeit nicht mehr gemeldet.

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Die Ermittler gehen davon aus, dass die Achtjährige fast ihr gesamtes Leben, rund sieben Jahre lang, das Haus nicht verlassen durfte

Tatsächlich schauten nach Aktenlage am 15. Oktober 2021 zwei Mitarbeiter unangekündigt bei der besagten Adresse vorbei. Die Großmutter und der Großvater des Mädchens, die offiziell dort wohnten, öffneten die Tür, ließen das Jugendamt aber nicht herein. Tochter und Enkelin seien nicht da. Die Mitarbeiter zogen wieder ab. Erst im Juni 2022, fast zwei Jahre nach dem ersten Brief, kam Bewegung in den Fall: Ein Ehepaar meldete sich beim Jugendamt, das über Umwege von dem Mädchen erfahren hatte und konkrete Hinweise gab. Das Jugendamt fragte nun in Italien nach, ob das Mädchen mit der Mutter wirklich dort lebt. Acht Wochen später die Antwort: Nein.

Erst jetzt kontaktierte das Jugendamt laut den Ermittlungen wieder die Polizei. Die rief mehrere Zeugen an, fuhr an der Adresse vorbei, durfte nicht rein – und stürmte das Haus wenige Tage später mit richterlichem Beschluss. Das war am 23. September.

Die Achtjährige schlief da mit ihrer Mutter in einem gemeinsamen Zimmer. Sie wirkte laut den Ermittlern normal, ordentlich angezogen und konnte sich gut ausdrücken. Das Treppensteigen fiel ihr schwer. Die Ermittler gehen nach früheren Angaben davon aus, dass die Achtjährige fast ihr gesamtes Leben, rund sieben Jahre lang, das Haus nicht verlassen durfte.

Ermittelt wird nicht nur gegen die Mutter und die Großeltern. Auch das Jugendamt ist im Visier der Staatsanwaltschaft – wegen des Anfangsverdachts der Freiheitsberaubung und Körperverletzung im Amt durch Unterlassen. Bereits eine Woche nach der Befreiung des Mädchens hatte die Staatsanwaltschaft beim Jugendamt bereits Akten beschlagnahmt, wurde am Donnerstag bekannt.

“Was in diesem Fall hätte anders laufen können und müssen, ist noch Gegenstand der Ermittlungen”

Wieso habe das Jugendamt die Behauptung der Mutter, nach Italien weggezogen zu sein, nicht früher überprüft, sondern erst nach dem Eingang mehrerer anonymer Hinweise, will ein Abgeordneter wissen. Wie könne es sein, dass die Mutter trotz Sorgerechts auch des Vaters einfach mit dem Kind das Land verlasse und es das Jugendamt nicht interessiere, fragt ein anderer Abgeordneter. Wie könne es sein, dass Polizei und Jugendamtsmitarbeiter vor dem Haus standen, in dem das Kind gefangen gehalten wurde, aber unverrichteter Dinge wieder abzogen, fragt eine weitere Abgeordnete.

Sie stelle sich diese Fragen auch, sei aber nicht die Ermittlungsbehörde, sagt NRW-Familienministerin Josefine Paul (Grüne). “Was in diesem Fall hätte anders laufen können und müssen, ist noch Gegenstand der Ermittlungen.” Sie selbst habe aus den Medien von dem Fall erfahren. Für die SPD-Fraktion steht eine Konsequenz bereits fest: “Die Jugendämter benötigen eine Fachaufsicht.”

Das Kreisjugendamt hat inzwischen Defizite eingeräumt: Die Verfahrensstandards zum Kinderschutz seien “nicht in Gänze eingehalten worden”, heißt es in einem Bericht an die Abgeordneten, der vor zwei Tagen veröffentlicht wurde. Künftig soll jeder Hinweis auf eine Kindeswohlgefährdung dem Vier-Augen-Prinzip unterliegen.

Der Fall wirft ein Schlaglicht auf die Situation der Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland. Wie eine repräsentative Studie der Hochschule Koblenz bereits 2018 ergab, bearbeiten die bundesweit rund 13.300 Mitarbeiter im Allgemeinen Sozialen Dienst (ASD) der 560 Jugendämter mehr als eine Million Fälle. Das ergaben Befragungen von rund 650 Fachkräften aus 175 Jugendämtern via Fragebogen. Die meisten Sozialarbeiter betreuen laut der Studie zwischen 50 und 100 laufende Fälle. Die Bundesarbeitsgemeinschaft Allgemeiner Sozialer Dienst fordert seit Jahren, dass sich eine Vollzeitkraft zeitgleich um maximal 35 Fälle kümmern soll. Aber nur 68 Prozent der Jugendämter erreichen diesen Schlüssel.

“In der Realität gehen oftmals Hilfen am Bedarf der Kinder und Jugendlichen vorbei”

Die knappen Kassen vieler Kommunen und die 2009 gesetzlich verankerte Schuldenbremse verpflichten viele Kommunen zum Sparzwang”, so kommtentierte Rainer Becker, Vorstandsvorsitzender der Deutschen Kinderhilfe, seinerzeit die Studie. “Die Einführung betriebswirtschaftlicher Konzepte und Vokabulare wie Kunde, Wettbewerb und Produkt beeinflussen die berufliche Praxis, die Arbeitsbedingungen sowie die Denk- und Handlungsstrukturen der Fachkräfte. Diese geraten so unter Druck, die fiskalische Haushaltssituation und die Budgetvorgaben maßgeblich bei der Wahl der Hilfemaß-
nahmen zu berücksichtigen.”

Die Folge: “In der Realität gehen oftmals Hilfen am Bedarf der Kinder und Jugendlichen vorbei. Kostengünstigeambulante Maßnahmen werden den teuren stationären Hilfen vorgezogen, Hilfen werden vorzeitig beendet und Zeitkontingente in den Familien vor Ort reduziert.” Daran hat sich bis heute nichts geändert. News4teachers / mit Material der dpa

Hier lassen sich die vollständigen Ergebnisse der Studie herunterladen.

Schlimmer Missbrauch: Schule informiert das Jugendamt, doch das reagiert nicht – wie soll Kinderschutz ohne Personal funktionieren?

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