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Schleicher fordert mehr Freiheit für Lehrkräfte, um Unterricht kreativer zu gestalten

Der OECD-Bildungsdirektor und PISA-Koordinator Prof. Andreas Schleicher mahnt angesichts des Lehrermangels zu Reformen im deutschen Schulsystem, um den Lehrerberuf attraktiver zu machen. Mehr Gehalt sei damit aber nicht gemeint, sagte er der «Stuttgarter Zeitung» und den «Stuttgarter Nachrichten». Vielmehr: Freiräume, um den Unterricht kreativer zu gestalten und Beziehungen zu den Schülerinnen und Schülern zu entwickeln. Der VBE widerspricht.

«Es geht weniger daum, den Lehrerberuf finanziell attraktiver zu machen, das ist er schon”: PISA-Koordinator Andreas Schleicher. Foto: OECD

«Geld verdienen die Lehrer in Deutschland genug. Finanziell ist der Beruf hier sehr attraktiv, auch und gerade im internationalen Vergleich.» Aber auch ein gut bezahlter, sicherer Beamtenjob locke die Menschen heute nicht mehr, wenn die Arbeitsbedingungen sonst nicht stimmen, sagte der Experte der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung.

Weiter sagte Schleicher: «Der Lehrerberuf ist in Deutschland intellektuell zu unattraktiv, und die Lehrer haben viel zu wenig die Gelegenheit, das zu tun, wofür sie eigentlich in den Beruf gegangen sind: nämlich jungen Menschen zu helfen, ihren Weg zu finden, und sie auf diesem Weg zu begleiten.» Sein Fazit: «Der Lehrermangel in Deutschland ist hausgemacht. Da muss sich viel ändern.»

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Jetzt ähnelten deutsche Schulen oft einem Fastfood-Restaurant. «Die Schülerinnen und Schüler sind häufig nur Konsumenten, die den Lernstoff serviert bekommen. Die Lehrer sind Service-Dienstleister, die das vorgefertigte Essen aufwärmen und herüberreichen sollen. Eltern sind Kunden, die sich gelegentlich beschweren, wenn etwas nicht in Ordnung ist. Diese Abläufe frustrieren alle.» Stattdessen bräuchten Lehrerinnen und Lehrer Freiräume, eigene Ideen zu entwickeln und kreative Unterrichtskonzepte zu erproben. «Sie brauchen Gelegenheiten für den Austausch und für die gemeinsame Arbeit im Team.»

«Lehrkräfte brauchen, so ungewohnt es für viele in Deutschland klingt, auch Zeit für anderes, als immer nur zu unterrichten»

Schleicher: «Nichts ist schlimmer als diese Kultur in Deutschland, dass man die Tür zum Klassenzimmer zumacht – und den Lehrer dort einfach nur alleinlässt. Und vor allem: Lehrkräfte brauchen, so ungewohnt es für viele in Deutschland klingt, auch Zeit für anderes, als immer nur zu unterrichten.»

In Bildungssystemen, die erfolgreicher seien als das deutsche, würden Lehrer und Schüler eng miteinander arbeiten. «Ein Lehrer kann vor allem dann viel erreichen, wenn er seine Schülerinnen und Schüler wirklich kennt – als Menschen, wer sie sind, und wer sie werden wollen. Diese Beziehungsarbeit ist das, was den Beruf wirklich effektiv und auch attraktiv macht. Wenn Sie Menschen fragen, warum sie Lehrer geworden sind, werden Ihnen die meisten sagen: „Ich wollte mit jungen Menschen arbeiten, wirklich an ihrer Entwicklung teilhaben.“ Einfach nur an der Tafel Formeln vorzutragen, bringt es allein nicht.»

Eine bessere Ausstattung und mehr Personal seien – auch Sozialarbeiter – gut. «In Zeiten des Fachkräftemangels dürfen wir aber auch nicht so tun, als gäbe es unbegrenzt Personal. Es geht auch darum, die Lehrer besser einzusetzen. Dazu brauchen die Schulen mehr Freiheiten, sich selbstständig zu organisieren.»

Schleichter fragt rhetorisch: «Warum soll es zum Beispiel nicht möglich sein, dass Frontalunterricht – der ja auch dazugehört – in größeren Gruppen abgehalten wird als in der üblichen Klassengröße? Oder, falls das räumlich nicht geht, auch digital. Und dafür gibt es dann an anderer Stelle die Zeit und die Möglichkeit, dass Lehrer intensiv persönlich mit den Kindern und Jugendlichen arbeiten. Ich bin fest überzeugt, dass auch mit den vorhandenen Ressourcen viel mehr möglich ist. Jedenfalls, wenn Deutschland bereit ist, vom ewig gewohnten Schema abzuweichen.»

«Der Glaube, man könne die Schülergruppen bei Frontalunterricht vergrößern oder diesen gar digital abhalten, wird scheitern!»

Widerspruch kommt vom VBE. «Die Forderung Andreas Schleichers nach mehr Eigenständigkeit für Schulen ist nicht neu. Immer, wenn es der Staat nicht schafft, Schulen ausreichend zu versorgen, wird das Problem abgeschichtet und den Schulen Freiräume für kreative Lösungen eingeräumt. Das ist keine Lösung des Problems, sondern eine Verlagerung!», sagt der Bundesvorsitzende Gerhard Brand. «Der Hinweis des PISA-Koordinators, Frontalunterricht in größeren Gruppen oder digital abzuhalten, offenbart den Unterschied zwischen Theorie und Praxis in seiner ganzen Härte», so Brand weiter.

«Was sich theoretisch denken lässt, muss sich auch in der Praxis bewähren und genau da wissen Lehrerinnen und Lehrer eines ganz genau: Der Glaube, man könne die Schülergruppen bei Frontalunterricht vergrößern oder diesen gar digital abhalten, wird scheitern! Denn es ist in der Praxis eben nicht so, dass Schülerinnen und Schüler nur darauf warten, Lernstoff angeboten zu bekommen, um diesen dann frei von jeglichen unterrichtlich-erzieherischen Herausforderungen aufnehmen zu können», betont er.

In der Praxis erfolge Bildung stets im Zusammenspiel von Didaktik, Methodik, Inhalt und Beziehung. «Und dieses Zusammenspiel muss auf die Schülergruppe zugeschnitten sein. Schülerinnen und Schüler, die sich mit dem Lernen schwertun, werden wir so überhaupt nicht erreichen und das konterkariert die Bemühungen, gerade die bildungsferneren Gruppen besser einzubinden und Bildung in Deutschland gerechter zu machen“, sagt der VBE-Chef. «Wenn Schleichers Forderung nach größeren Gruppen überhaupt einen Effekt haben sollte, dann sprechen wir hier mindestens von doppelten Klassengrößen. Zu glauben, dass so ein Unterricht effektiv sein könnte, widerspricht jeglicher Erfahrung», erklärt Gerhard Brand. News4teachers / mit Material der dpa

Hier geht es zum vollständigen Interview mit Andreas Schleicher.

Schleicher im Interview: „Eine Technologie des 21. Jahrhunderts passt nicht mit einer Pädagogik aus dem 20. Jahrhundert zusammen“

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