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ChatGPT und die Folgen: Streicht alle Leistungsnachweise, deren Erbringung nicht lückenlos kontrolliert werden kann! Ein Gastbeitrag

DÜSSELDORF. Künstliche Intelligenz – das scheint spätestens klar seit Erscheinen der Software ChatGPT – wird das Bildungssystem verändern. Wie sollen die Leistungen von Schülerinnen und Schülern künftig benotet werden, wenn hinter jedem Aufsatz und jedem Referat ein maschinengeschriebener Text stehen kann? Unser Gastautor, der Psychologe und Bildungsforscher Prof. Dr. Rainer Dollase, hat darauf eine klare Antwort: mit einer strengen individuellen Leistungsprüfung.

Keine Hilfsmittel, streng individuell – sieht so die Leistungsüberprüfung der Zukunft aus? (Symbolfoto) Foto: Shutterstock

ChatGPT zwingt zu gerechterer Notenvergabe

Es war eigentlich immer schon so, dass nur technische Entwicklungen die Gesellschaft wirklich verändert haben. Mehr verändert als alle flammenden Proteste, Memoranden, Pamphlete und Denkschriften es jemals gekonnt haben. Die Erfindung von Fahrzeugen, von elektrischen Leitungen, das Internet etc. – das sind die wahren Motoren der Veränderung einer Gesellschaft. Das andere, was sich immer mehr pfauenmäßig im Vordergrund spreizt, ist der intellektuelle Überbau, sind die pädagogischen und ethischen Gurus, deren besorgten Augen warnen „das alles noch ganz schrecklich wird“ und „die Welt dem Untergang ziemlich nahe ist“. „Gepfiffen!“ würde man im Ruhrpott sagen – eine Absage an den Katastrophismus.

Nun gibt es ein putziges ChatGPT (Generative Pre-trained Transformer) der/die/das es anmutig versteht, auf jede mögliche Siri Frage in schönen Texten zu antworten. Was den meisten von uns, die schlicht und einfach nicht für den Umgang mit Sprache geeignet sind (z. B. Professoren und -innen, die stöhnen, weil sie ein Gutachten schreiben müssen) natürlich einen gehörigen Respekt abnötigt – wie toll, das mir ein Programm diese unangenehme Arbeit, Texte zu schreiben, abnimmt. Das sind z. B.: Trauerbriefe, Parteiprogramme, Werbetexte, Drehbücher (:-), Gutachten, Public Relations Texte, die endlich etwas preiswerter und kurzfristiger mit einem kleinen Programm erhältlich sein werden. Die horrenden Honorare aller Beratungsfirmen in Werbung, Politik, Parteien, Administration und Journalismus sind sicher Vergangenheit. Denn ChatGPT hat in erster Linie Folgen für das schreibende Gewerbe, vielleicht sind da einige Stellen überflüssig. Vielleicht schreibt ChatGPT demnächst auch mal einen schönen Plauder-Roman. Seit Arno Schmidt „Zettels Traum“ habe ich ohnehin den Eindruck, dass zahlreiche Bestseller schon von ChatGPT geschrieben worden sind – unendlich langweilig und reine gedankenlose Schwätzerei.

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“Auch abzuschaffen: die Benotung der mündlichen Mitarbeit, das Talkshow-Gelabere als Grundlage für Noten oder die gemeinschaftliche Präsentation”

Nun haben sich jede Menge Pädagogen gemeldet, die wegen ChatGPT flugs eine Reform der schulischen Notenfindung fordern. Vor allen Dingen all jene, die es ohnehin mit den Noten nicht so haben, weil Noten den Aufstieg der bildungsorientierten Mittelschicht häufig blockieren. Deren Nachwuchs hat sympathischerweise so wenig wie anderer Leute Sprösslinge von allem Ahnung und Kompetenz – aber deren Eltern wollen unbedingt Abi und Uni. Kann ChatGPT da helfen? Und im Aufstiegsmilieu lechzen nun viele nach intellektuellen Helferlein, die Sohnemann und Töchterlein auf jeden Fall den Zugang zu den höheren akademischen Weihen besorgen kann. ChatGPT als Aufstiegshilfe?

Das ist meiner Ansicht nach falsch gedacht. Wir haben Autos und dennoch gehen wir zu Fuß. Wir haben Fahrräder und dennoch laufen manche 42 km Marathon und sind auch noch stolz darauf. Wir haben Bücher, in denen sowieso das meiste steht, was man denken könnte – warum muss ich mich selbst anstrengen, um das, was Mathematik ausmacht, selber zu können?

Natürlich stellen Kinder solche Fragen, ganz locker, „Weshalb soll ich schreiben lernen? Meine Freundin kann das doch…dann brauch ich es doch nicht zu können!“ Bei dieser Gelegenheit wird ein ziemlich kindliches Zentralthema aktiviert, nämlich: Soll die schulische Leistung individuell zuschreibbar sein? Oder ist es uns egal, ob die Leistung von ChatGPT stammt? Ob das eine Gemeinschaftsarbeit gewesen ist, ob die gesamte Familie mitgeholfen hat, wenn es darum geht, ein Referat oder eine Prüfung mit einer PowerPoint Präsentation zu bestehen?

Wir müssen schlicht entscheiden, welche drei Möglichkeiten die unsere sein soll.

  1. Wir geben Noten nur nach individueller Leistungsfähigkeit, d. h. Leistung wird ohne irgendein Hilfsmittel und ohne irgendwelche versteckten (Infos) Hilfsmittel im Aufgabentext (heute bekannt unter dem euphemistischen Wort „Kompetenzprüfung“) ermittelt.
  2. Zweite Möglichkeit: Uns ist es egal, wie die betreffenden Leistungen des Individuums zustande gekommen sind. Hauptsache er/sie liefert sie ab, wie er/sie daran gekommen ist, ist völlig egal. Abgeschrieben oder nicht – egal.
  3. Möglichkeit: Wir stellen ein Zeugnis aus, in dem alles mögliche zertifiziert wird – auch z. B. dass der Nachwuchs bei der Feuerwehr mitgeholfen hat, dass er einen Kursus im Skifahren gemacht hat, oder sein „Seepferdchen“ erworben hat. Unter anderem steht in diesem „mehrperspektivischen“ Zeugnis (nach Dollase) auch, dass er als Hausarbeiten schöne Sachen abgeliefert hat, wobei wir nicht wissen, ob er sie alleine gemacht hat oder aber sich die hat von ChatGPT hat schreiben lassen. Die dritte Möglichkeit ist also ein Kompromiss Weg – alles steht im Zeugnis, weiche und harte Fakten – und es steht dabei, wie die Leistung erbracht worden ist. Beispiel: „S. hat sich an guten Gruppenarbeiten beteiligt. S. hat in einem Test ohne Hilfsmittel den Prozentrang 77% erreicht.“ Leser solcher Zeugnisse beurteilen dann, ob sie S. haben wollen.

Wenn wir uns nicht für eine dieser drei Möglichkeiten deutlich entscheiden – und ich täte das ohne weitere Gewissensbisse für die erste Möglichkeit –, dann ist eine weitere Diskussion über die pädagogische Rolle von ChatGPT ohnehin überflüssig.

ChatGPT als Lernmittel: Sicherlich kann man natürlich das lesen, was Shut GPT schreibt und könnte daraus lernen – aber was ist da anders als bei Büchern? In Büchern steht alles, im Internet steht alles, bei Wikipedia steht alles – wir sind überschwemmt von massenhaften Informationen. Natürlich können wir uns auch den Output eines Programmes mal ansehen und damit lernen,  was es denn so alles von sich aus als Maschine geschrieben hat. Wichtiger wäre: den Schülern beizubringen, wie man ChatGPT konstruiert. (Und nicht gleich mit der Ethik des Umgangs zu beginnen!)

In meiner langjährigen Forschungspraxis habe ich mal einen Mitarbeiter gehabt, der Spanisch konnte. Als ich einen Brief in spanischer Sprache bekam (Spanisch kann ich nicht), habe ich ihn gefragt, ob er den Brief übersetzen könnte. Seine entrüstete Antwort: „Ganz allein? In der Schule haben wir das immer in Gruppenarbeit gemacht!“ Nichts gegen Gruppenarbeit – aber sie soll in der Schule der individuellen Kompetenzentwicklung dienen. Im Unternehmen sieht das umgekehrt aus – Gruppenarbeit soll dem Unternehmen dienen, das Individuum ist egal.

Meine Prognose für die schulischen Folgen von ChatGPT: Wegfall von Leistungsnachweisen, deren Erbringung nicht lückenlos kontrolliert werden kann und glasklar eine individuell zuschreibbare Leistung ist. Stattdessen Tests, Klausuren, mündliche Einzelprüfungen – am besten maschinell auszuwerten. Also: keine Hausaufgaben mehr, keine Projektberichte. In einer Einzelprüfung mündlich oder schriftlich erbringen Schüler Leistungen. Auch abzuschaffen: die Benotung der mündlichen Mitarbeit, das Talkshow-Gelabere als Grundlage für Noten oder die gemeinschaftliche Präsentation.

“Wir sollten Menschen nicht in Verführung bringen, sich mit fremden Federn zu schmücken. Deshalb nur strenge Leistungsprüfungen”

Meine Prognose: Das wird die Bildungsgerechtigkeit erhöhen. Es werden mehr Schwätzer an Abischranken scheitern und mehr stille Schüler*innen werden es schaffen. Das Bildungssystem wird stärker fähigkeitsorientiert – statt kulturorientiert (= alles wird positiv bewertet, was der Kultur der Bildungsschicht entspricht). Wir sollten Menschen nicht in Verführung bringen, sich mit fremden Federn zu schmücken. Deshalb nur strenge Leistungsprüfungen.

Dass solche Menschen, die ihre Kompetenz nur dem Team, also anderen, verdanken und nicht der eigenen Leistung, in Wirtschaft und Politik existieren, müsste ebenfalls reflektiert werden. Für so manche tolle Rede unserer Politiker*innen zeichnet in Wirklichkeit nicht der Redner oder die Rednerin verantwortlich, sondern ein Anonymus im Hintergrund: ein wissenschaftlicher Mitarbeiter oder wer auch immer. Das ist der Stil der Verlogenheit.

Unser Gastautor
Der Psychologie-Professor Rainer Dollase gehört zu den renommiertesten Bildungswissenschaftlern in Deutschland. Foto: privat

Dr. Rainer Dollase war bis zu seiner Emeritierung im Jahr 2008 Professor in der Abteilung Psychologie und am Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung der Universität Bielefeld.

Die Vorschulerziehung stellte dabei einen seiner Arbeits- und Veröffentlichungsschwerpunkte dar. Später hat er sich einen Namen in der G8/G9-Debatte gemacht – als wortgewaltiger Gegner des Turbo-Abiturs. Dollase war Mitglied des Teams “Schule und Kultur” der nordrhein-westfälischen CDU im Vorfeld der Landtagswahl 2017.

Warum ChatGPT zu mehr Bildungsgerechtigkeit beitragen kann – und womöglich bald auch Lehrkräfte entlastet

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