HANNOVER. Expertinnen und Experten analysieren die Situation der Alternativfächer zum konfessionellen Religionsunterricht und fordern eine deutliche Verbesserung der religionskundlichen Anteile des Ethikunterrichts in Schulen.
Enorme regionale Unterschiede, inhaltliche Lücken, fachfremde Lehrkräfte, oftmals fehlende Angebote in Grundschulen: Die Situation von Religionskunde an Schulen in Deutschland lässt stark zu wünschen übrig. Das ist das Ergebnis eines religionswissenschaftlichen Kooperationsprojekts, für das Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Leibniz Universität Hannover (LUH) und der Universität Leipzig analysiert haben, wie es um den Religionskunde-Unterricht in Deutschland steht, der in der Regel als Teil sogenannter „Ersatzfächer“ angeboten wird. Das Projekt wurde vom Niedersächsischen Ministerium für Wissenschaft und Kultur gefördert.
„Unser Ziel war es, die sehr komplexe und unübersichtliche Situation der religionskundlichen Anteile der Ethik-Unterrichte in Deutschland analytisch zu erfassen und wissenschaftlich zu reflektieren“, fasst LUH Professorin Wanda Alberts zusammen. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler kommen zu dem Ergebnis, dass die sogenannten Alternativfächer zum Religionsunterricht in den Bundesländern in äußerst unterschiedlicher Form umgesetzt werden. In ihren religionskundlichen Anteilen seien sie oftmals sehr unbefriedigend und „in vielerlei Hinsicht erschreckend“, so Alberts. Bei der Zusammensetzung des Teams sei gezielt darauf geachtet worden, dass Religionswissenschaftlerinnen und –wissenschaftler gewonnen wurden, die diese Analyse unabhängig von den Interessen religiöser Institutionen vorgenommen haben.
In fast allen Bundesländern gibt es ein Fach, das Schülerinnen und Schüler besuchen, die aus Gewissensgründen vom Religionsunterricht abgemeldet sind – ein sogenanntes „Ersatzfach“. In den alten Bundesländern existieren diese Fächer seit den 1970er-Jahren, in den neuen Bundesländern seit Anfang der 1990er-Jahre. Während der Religionsunterricht grundgesetzlich verbürgt ist, sind die Ethikunterrichte indes reine Ländersache.
Es habe sich gezeigt, dass sich sehr unterschiedliche Pfade entwickelt hätten: In den westdeutschen Bundesländern seien in den vergangenen Jahrzehnten eine Vielzahl an Religionsunterrichten für religiöse Minderheiten eingeführt worden, etwa alevitischer, christlich-orthodoxer oder mennonitischer Unterricht. Der Ethikunterricht als Alternative zum Religionsunterricht wurde dagegen nicht maßgeblich gestärkt. In den neuen Bundesländern habe sich die Situation anders dargestellt, weil sich hier die Abmeldequote vom konfessionellen Religionsunterricht erwartungsgemäß so hoch gezeigt habe, dass man einen vollwertigen Ersatz anbieten musste. In Sachsen zum Beispiel besuchen etwa drei Viertel der Kinder und Jugendlichen den Ethikunterricht. Daraus resultiere, dass in den meisten neuen Bundesländern Ethik von der 1. bis zu 12. Klasse angeboten wird. In den alten Bundesländern hingegen werde in der Grundschule oft kein Ersatzunterricht angeboten.
Die Autorinnen und Autoren fordern als eines der zentralen Ergebnisse ihrer Analyse eine Abkehr von der „Ersatzfach“-Rhetorik. Diese sei zu sehr der „alten Bundesrepublik“ verhaftet, in der in manchen Regionen diese Angebote tatsächlich nur Einzelfälle ansprachen. Inzwischen sprächen sie einen signifikanten Teil der Bevölkerung an und müssten konsequent umgesetzt werden. „Einer religiös ungebundenen, säkularen Religionskunde sollte ein selbstverständlicher Platz in der Schule zugewiesen werden – für alle Schülerinnen und Schüler“, bringt es Wanda Alberts auf den Punkt.
Allerdings kritisieren die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler auch die inhaltliche Gestaltung der religionskundlichen Anteile des Ethikunterrichtes, die oft stark verbesserungswürdig sei. Die säkulare Religionswissenschaft als Bezugswissenschaft müsse klarer eingebunden werden, da ihre Forschungsergebnisse und didaktischen Ansätze Grundlage für die Ausgestaltung von Religionskunde seien. In vielen Fachkonzepten werde Religion als etwas Fremdes oder sogar im Fall etwa des Islam oder Buddhismus als etwas Skurriles, Exotisches präsentiert.
Hier mangele es oft an einem fundierten religionswissenschaftlich basierten Ansatz, der Religion als Teil von Lebenswelten in Gesellschaften ernst nehme – eine wichtige Bedingung auch für die Toleranzerziehung. Religionskundliche Inhalte müssten bereits in der Lehramtsausbildung deutlich stärker verankert werden, als dies derzeit der Fall sei, um den Lehrkräften einen professionellen Umgang damit zu ermöglichen. Zudem seien weniger fachfremde Lehrkräfte in den Ethikfächern wünschenswert, aber in Zeiten umfassenden Lehrkräftemangels müsse dies oftmals eine Wunschvorstellung bleiben. (zab, pm)
Die Ergebnisse der Studie sind jetzt im „Handbuch Religionskunde in Deutschland“ (De Gruyter, 2023, hg. von Wanda Alberts, Horst Junginger, Katharina Neef und Christina Wöstemeyer) erschienen. Das Buch ist auch als open access-Publikation kostenfrei zugänglich: https://www.degruyter.com/document/isbn/9783110694536/html?lang=de
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