BERLIN. Die Behindertenbeauftragten von Bund und Ländern fordern die Kultusminister in einem gemeinsamen Papier dazu auf, die inklusive schulische Bildung zu stärken – und die Förderschulen schrittweise abzuschaffen. Sie verweisen auf die UN-Behindertenrechtskonvention, die seit 2009 in Deutschland im Range eines Bundesgesetzes gilt. Daraus folge, so heißt es in der Erklärung, dass Menschen mit Behinderungen ein Recht auf diskriminierungsfreie inklusive Beschulung haben. Der Behindertenbeauftragte der Bundesregierung, Jürgen Dusel, betont: „Inklusive Bildung ist ein Menschenrecht“.
Aktuelle Zahlen der Kultusministerkonferenz zeigen jedoch, so heißt es in der Erklärung – die bereits im Dezember erschienen ist, aber öffentlich bislang kaum beachtet wurde –, dass das Menschenrecht auf inklusive Bildung in Deutschland noch immer nicht flächendeckend gewährt werde: „Zwar besuchten von den 582.400 Schüler*innen, die im Jahr 2020 sonderpädagogisch gefördert wurden, rd. 56 Prozent eine Förderschule und rd. 44 Prozent eine allgemeine Schule. Der Anteil der Schüler*innen mit sonderpädagogischer Förderung bezogen auf alle Schüler*innen ist in den letzten Jahren jedoch insgesamt gestiegen. Das führt dazu, dass der Anteil der Schüler*innen, die eine Förderschule besuchen, seit Ratifizierung der UN-BRK kaum abgenommen hat: Sie lag im Jahr 2020 bei 4,3 Prozent.“
„Leider müssen wir eine nahezu ungezügelte Ausweitung von Sondersystemen und sonderpädagogischen Förderbedarfen beobachten”
Im Gegenteil: „Mit Sorge stellen wir zudem fest, dass einzelne sonderpädagogische Förderbedarfe bundesweit zunehmen. Dabei handelt es sich in erster Linie um Bedarfe der geistigen und der emotional-sozialen Entwicklung. Bedarfslagen im Autismus-Spektrum und im Bereich Lernen folgen dieser Tendenz.“ Christian Walbrach, Behindertenbeauftragter des Landes Sachsen-Anhalt, kommentiert: „Leider müssen wir eine nahezu ungezügelte Ausweitung von Sondersystemen und sonderpädagogischen Förderbedarfen beobachten. Das ist aus meiner Sicht eine Sackgasse, die Ohnmacht, Ignoranz, Unkenntnis oder auch Überforderung offenbart. Ich befürchte, ein Grund dafür ist auch der fehlende, krisenfeste bildungspolitische Wille.“
Angesichts dieser Entwicklung herrscht bei den Beauftragten wenig Vertrauen in die bisherigen Verfahren zur Feststellung des sonderpädagogischen Förderbedarfs. So fordern sie in ihrer Erklärung: „Die Förder- und Prozessdiagnostik hat schulunabhängig zu erfolgen. Dabei muss es stets um die Diagnostik des sonderpädagogischen Förderbedarfs und nicht um die Diagnostizierung der Förderschulbedürftigkeit gehen. Das an sonderpädagogischen Förderschwerpunkten orientierte Feststellungsverfahren ist nicht mehr zeitgemäß.“ Und: Kinder in Förderschulen sollten darin unterstützt werden, den Übergang in eine allgemeine Schule zu erreichen.
Der bisherige Kurs der meisten Bundesländer, Förder- und Regelschulen nebeneinander zu betreiben, wird infrage gestellt – auch angesichts des sich ausweitenden Lehrermangels. „Die Dualstrukturen, bestehend aus einem höchst ausdifferenzierten Förderschulsystem und inklusiv ausgerichteten allgemeinen Schulen, sind grundsätzlich und angesichts eines länderübergreifenden Personalnotstandes dringend zu überprüfen. Die Installierung inklusiver Bildungsangebote erfordert eine inklusive Grundhaltung, kostet Zeit, Ressourcen, zielt auf Bewusstseinsbildung und benötigt Durchsetzungsfähigkeit. Weite Teile der Bundesrepublik bedürfen sowohl in bildungsstruktureller als auch in bildungspolitischer Hinsicht einer Neuausrichtung“, so fordern die Beauftragten. Heißt: eine Transformation hin zu einem inklusiven Schulsystem.
Konkret gefordert wird: „Parallelstrukturen zwischen Förderschulbesuch und inklusiver Beschulung sind zugunsten letzterer konsequent abzubauen und weitestgehend aufzulösen. Ein Ausbau der Förderschulstrukturen und neuer Förderschulstandorte darf nicht erfolgen. Förderschulen könnten zum Beispiel umstrukturiert und für Kinder ohne Behinderungen geöffnet werden. Darüber hinaus könnten mobile Teams zur Förderung von Kindern mit Behinderungen in inklusiven Settings ausgebaut oder das Personal von Förderschulen in inklusive allgemeine Schulen umgesetzt werden. Solange Förderschulen bestehen, darf die Wahlfreiheit der Eltern zwischen allgemeiner Schule und Förderschule nicht durch die Formulierung eines Ressourcenvorbehaltes eingeschränkt werden.“
„Qualitativ hochwertiger inklusiver Unterricht gelingt nur mit multiprofessionellen Teams, die möglichst aus einer Ressortverantwortung gestellt werden”
Dass inklusiv arbeitende Schulen personell breit aufgestellt werden müssen, ist den Beauftragten klar. Sie stellen fest: „Qualitativ hochwertiger inklusiver Unterricht gelingt nur mit multiprofessionellen Teams, die möglichst aus einer Ressortverantwortung gestellt werden. Neben Lehrkräften müssen vor allem auch Therapeut*innen, Schulpsycholog*innen, (Sozial-) Pädagog*innen sowie Assistent*innen und Pflegekräfte je nach Bedarf ihren Einsatz finden. Die Teams benötigen Zeit und Raum u.a. für Supervision, Förderplanung und ‚Fallbesprechungen‘. Die aktive Einbindung der Schüler*innen und ihrer Erziehungsberechtigten ist dabei ein wichtiger Bestandteil.“ Eine Doppelbesetzung jeder Klasse sei dabei in der Regel anzustreben. Förderschullehrkräfte sollten Stammpersonal an allgemeinen Schulen sein. Bei spezifischen Förderbedarfen sei zusätzliches Personal vorzusehen
Jürgen Dusel, Behindertenbeauftragter der Bundesregierung, betont: „Im Jahr 2020 verließen mehr als 70 Prozent der Jugendlichen, die eine Förderschule besuchten, die Schule ohne Hauptschulabschluss. Mit ihrem Zögern beim Abbau der Förderschulen vergeuden viele Bundesländer Talente und Fachkräftepotenzial. In Zeiten akuten Fachkräftemangels können wir uns das auch volkswirtschaftlich nicht mehr leisten.“ News4teachers
Hier geht es zur vollständigen Erklärung der Behindertenbeauftragten.
