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“Mathematische Analphabeten”: Wie ein Mathe-Professor auf Youtube mit Abiturienten (und Lehrkräften) abrechnet

PADERBORN. Sind deutsche Schülerinnen und Schüler – Abiturienten – im internationalen Vergleich noch konkurrenzfähig? In Mathematik und den Naturwissenschaften nicht – meint jedenfalls ein Paderborner Mathe-Professor, der sich auf Youtube die indische Zentralprüfung für die Hochschulen vornimmt und erklärt, die würde praktisch kein deutscher Schulabgänger bestehen. Er spricht von mathematischen Analphabeten“, die größtenteils von den Gymnasien kämen. Auch Lehrkräfte bekommen ihr Fett weg.

“Von Sinus und Cosinus brauchen wir gar nicht erst reden.” (Symbolfoto) Foto: Shutterstock

Anfangs durch die Schulbücher meines Sohnes: Auf jeder Seite mindestens ein gruseliger Fehler, unsaubere Begriffsbildung, Versprachlichung mit sperrigen Textgebilden, kein roter Faden und schließlich das Auslassen von Beweisen. Später habe ich mir in der Uni-Bibliothek die meisten neueren Schulbücher angesehen und mein Eindruck wurde bestätigt. Es war tatsächlich kein Einzelfall“

So berichtet Bernhard Krötz, Mathematikprofessor an der Uni Paderborn, in einem Interview mit dem „Overton-Magazin“ von seinem Schlüsselmoment, in dem er sich zum Fundamentalkritiker des deutschen Bildungswesens wandelte. Denn der Fehler, so Krötz steckt nicht nur in den Büchern – sondern im System: „Die Lehrbücher haben sich nach den Lehrplänen auszurichten um die Zertifizierung der Ministerien zu erhalten. Sind die Lehrpläne desaströs, dann auch die Bücher mit Unterrichtsmaterialien.“

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In einem in kurzer Zeit von 200.000 Menschen gesehenen Video auf Youtube vergleicht der Mathematiker nun die Anforderungen in seinem Fach, die im indischen „Joint Entrance Exam“ (JEE) gestellt werden – und mit dem dort gesiebt wird, wer auf die Universität darf und wer nicht. Nur jeder 40. Schüler kommt über die Hürde, das räumt auch Krötz ein. „Interessant ist aber, wie die schlechtesten abschneiden – und unter 15 Prozent fällt niemand“, behauptet er – und spinnt den Faden weiter, in dem er einen Vergleich zu Deutschland zieht: Von deutschen Abiturienten „reden jetzt hier nicht von Prozentzahlen oder Promillezahlen, die diesen Test bestehen könnten, sondern wir reden hier von ppm – Parts per Million“, sagt er.

Aufgabe für Aufgabe geht Krötz im Video durch das JEE. „Wenn Sie glauben, Sie dürfen einen Taschenrechner verwenden, dann sind sie aber schief gewickelt“, erklärt er zwischendurch. „Außer Papier und Stift sind keine Hilfsmittel hier zugelassen.“ Fazit: „Ich habe den Test einem meiner Kollegen an der Universität gezeigt und ich zitiere ihn: Dann könnten wir hier dicht machen.“ Die Realität sei: „Studienanfänger an einer regionalen Universität in Nordrhein-Westfalen können nicht gut Bruchrechnen, vielleicht gar nicht Bruchrechnen, sie sind in Termumformungen ganz schlecht, von Sinus und Cosinus brauchen wir gar nicht erst reden. Viele von denen sind mathematische Analphabeten. Sie sind selbst mit Brückenkursen nicht studierfähig für ein mathematikaffines Fach. Und wir sollen mit diesen Leuten arbeiten.“

„Im besten Falle würden fünf Prozent unserer derzeitigen Realschullehrer diese Prüfung verstehen“

Auch Lehrkräfte bekommen ihr Fett weg – Krötz holt am Ende des Videos noch Aufgaben einer Matheprüfung, der sich 1971 Realschüler in Baden-Württemberg unterziehen mussten, hervor. Er ist sich sicher: An ihr würden heute sogar die allermeisten Sekundarstufe-I-Lehrerinnen und Lehrer scheitern. „Im besten Falle würden fünf Prozent unserer derzeitigen Realschullehrer diese Prüfung verstehen“, meint er.

Diesen Aufgaben stellt er Anforderungen gegenüber, die im neuen Kernlehrplan Mathematik für die Sekundarstufe II in Nordrhein-Westfalen enthalten sein sollen. „Im Rahmen des allgemeinen Bildungs- und Erziehungsauftrags der Schule unterstützt der Unterricht im Fach Mathematik die Entwicklung einer mündigen und sozial verantwortlichen Persönlichkeit und leistet weitere Beiträge zu fachübergreifenden Querschnittsaufgaben in Schule und Unterricht, dazu zählen unter anderem Menschenrechtsbildung, Werteerziehung, politische Bildung und Demokratieerziehung…“, so heißt es darin – Kriterien, die zum Beispiel bei der Aufgabenstellung und in den Gesprächen mit Schülerinnen und Schülern eine Rolle spielen. Für Krötz ist das schlicht „Ideologie“, die im Mathematikunterricht nichts verloren hat. „Aus meiner Sicht hat das wenig mit Mathematik oder Naturwissenschaften zu tun und genauso sieht man das auch im asiatischen Raum“, so sagt der Professor.

Folgerichtig empfiehlt er im Interview alte DDR-Schulbücher: „In diesen Lehrbüchern ist ein wissenschaftlicher Ansatz vorhanden und sie sind propädeutisch ausgerichtet. Unsere heutigen Lehrbücher sind in die inhaltsleere Kompetenzorientierung einbalsamiert.“

“Und so wie aus einem strauchelnden Gymnasiasten ein sehr guter Realschüler werden kann, kann sich aus einem überforderten Gymnasiallehrer ein passabler Instrukteur für die Mittelschulen entpuppen”

Krötz schlägt eine radikale Bildungsreform vor, eine „gesundende Verschlankung“ wie er das nennt. „Mit der Abschaffung des Nachmittagsunterrichts vor der Oberstufe und der Wiedereinführung eines viergliedrigen Schulsystems mit einer Abiturienten-Quote von maximal 20 Prozent spart man viel Geld und behebt den Lehrermangel automatisch. Und so wie aus einem strauchelnden Gymnasiasten ein sehr guter Realschüler werden kann, so kann sich aus einem überforderten Gymnasiallehrer ein passabler Instrukteur für die Mittelschulen entpuppen. Und da die Vergütung mit A13 für die beiden Lehrerarten gleich ist, frage ich mich, weshalb niemand aus der Politik auf diese Lösung gekommen ist.“ News4teachers

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