OLCHING. Was können Lehrkräfte tun, um trotz der angespannten Unterrichtssituation immer wieder gestärkt in den Schulalltag gehen zu können? Unser Gastautor Peter Maier, pensionierter Gymnasiallehrer und Experte für psychische Gesundheit im Schuldienst, sieht vor allem eine Möglichkeit, die auf gegenseitige Unterstützung baut: die kollegiale Fallberatung.
Kollegiale Fallberatung – Hilfe zur Selbsthilfe im stressigen Schulalltag
Aufruhr in der Lehrerschaft
Die „Empfehlungen zum Umgang mit dem akuten Lehrermangel“ der Ständigen Wissenschaftlichen Kommission (SWK) der Kultusministerkonferenz (KMK) hat im ganzen Land zurecht Aufruhr erzeugt. Die Anregungen, mit einer Anhebung des Stundendeputats, mit Erhöhung der Klassenstärken, mit Erschwerung von Teilzeit und Vorruhestandsregelungen usw. dem akuten Lehrermangel begegnen zu wollen, sind ein Schlag ins Gesicht der sowieso schon hoch belasteten Lehrkräfte in vielen Schulen. Die gleichzeitige Empfehlung der 16 ProfessorInnen der SWK, die Pädagogen sollten doch durch Achtsamkeitsübungen und Meditation zu Hause für einen gesundheitlichen Ausgleich sorgen, kann in diesem Zusammenhang nur noch als blanker Hohn empfunden werden.
Fazit: Diese Empfehlungen der SWK sind wirklichkeitsfern bezüglich des heutigen Berufsalltags von Lehrkräften und sie sind extrem kontraproduktiv. Der Schuss wird wohl nach hinten losgehen, wenn die Kultusministerien der einzelnen Länder auch nur Teile dieser Empfehlungen umsetzen sollten, da sich immer mehr Studenten des Lehramts von einer solchen sie zukünftig zu erwartenden Schulrealität abgeschreckt fühlen und sich ältere Lehrkräfte deshalb so schnell wie möglich in Vorruhestandsregelungen flüchten werden.
Durch diese soeben erläuterte heftige Provokation der ProfessorInnen der SWK bezüglich ihrer Vorschläge zur „Lösung“ des Lehrermangels gerät leider ein anderer, an sich wichtiger und substantieller Punkt der SWK-Empfehlungen in den Hintergrund: Ihre Analyse zur Lehrergesundheit.[1] Viele Pädagogen empfinden jedoch auch die Empfehlungen zu diesem an sich wichtigen Thema erneut als einen Schlag ins Gesicht, wenn einerseits die Unterrichtsbedingungen substantiell verschlechtert werden sollen, gleichzeitig aber Überlegungen angestellt werden, wie die Lehrergesundheit verbessert und erhalten werden könnte. Dennoch lohnt es sich, an dieser Stelle näher in dieses Paper der SWK zu schauen.
Vorbeugende Maßnahmen zur Gesundheitsförderung
In der Analyse der SWK zur Lehrergesundheit, die sich u. a. auf die repräsentative Schulbarometer-Umfrage der Robert Bosch Stiftung vom Frühjahr 2022 beruft, wird folgendes festgestellt: „Fast zwei Drittel der Befragten (Lehrkräfte) berichten von körperlicher, knapp die Hälfte von mentaler Erschöpfung. Die Situation hat sich während der Hochphase der Corona-Pandemie verschärft und ist 2022 nur leicht zurückgegangen.“[2] Als Antwort darauf hat die SWK sogenannte „Ansätze der Gesundheitsförderung“ entwickelt – individuelle Maßnahmen und Kompetenztrainings zur Klassen- und Gesprächsführung. Zudem erkennt die SWK die Gesundheitsförderung auch als Organisationsaufgabe im Schulsystem. Und als eine dieser Maßnahmen zur Gesundheitsförderung wird explizit „die Stärkung von Coaching- und (Gruppen)Supervisionsangeboten“ empfohlen.[3]
Diese Betonung der Supervision erscheint mir extrem wichtig in heutiger Zeit, unabhängig von dem Aufruhr, den das SWK-Papier natürlich deutschlandweit zurecht erzeugt hat. Leider wird in dieser Wolke von Wut und Unverständnis eine an sich gute Idee von der SWK selbst vernebelt bzw. desavouiert: Dass wir als Lehrkräfte eben nicht nur Fachunterricht geben, sondern unsere Schüler zugleich auf ihrem Weg durch die Pubertät hin zum Erwachsenwerden begleiten sollen. Die Beziehungsarbeit ist im Unterricht immer mit im Spiel nach dem Motto „Erziehung durch Beziehung“. Es geht also nicht nur darum, den Schülern fachliches Wissen und Kompetenzen zu vermitteln (Bildungsziel I), sondern ihnen auch bei ihrer Persönlichkeitsentwicklung, Charakterbildung und Werteerziehung zur Seite zu stehen (Erziehungsziel II). Fazit: Effektiv sind wir Lehrkräfte heute auch als Psychologen, Seelsorger und Lebensbegleiter gefragt und gefordert.
Diese soeben genannte Beziehungsebene jedoch ist eine Quelle für den Burnout. Und spätestens hier kommt die Supervision, die die SWK explizit auch den Lehrkräften empfiehlt, ins Spiel. Bei sozialen Berufen gehört die Supervision schon immer ganz selbstverständlich mit dazu. Es ist jedoch eine große Illusion zu meinen, gerade an weiterführenden Schulen wie Realschule, Fachoberschule und Gymnasium ginge es nur um reinen Fachunterricht und digitales Kompetenztraining. Die Supervision kann sehr dabei helfen, gerade auf der emotional-beziehungshaften Ebene, auf der heute so viele Lehrkräfte herausgefordert werden, rechtzeitig Konflikte zu entschärfen, Spannungen zu vermindern und Lösungen zu finden.
Auch „Das Deutsche Schulbarometer“ der Robert Bosch Stiftung kommt aufgrund einer aktuellen Umfrage vom Herbst 2022 unter mehr als 1000 SchulleiterInnen aller Schularten zu dem Ergebnis, dass in den Schulen in der Post-Corona-Zeit ein hoher Fortbildungsbedarf für Lehrkräfte zum Umgang mit psychosozial belasteten Kindern und Jugendlichen besteht. In diesem Zusammenhang würden 45 Prozent aller Schulleitungen jetzt ihrem Lehrerkollegium explizit Supervisions- und Coaching-Angebote machen wollen.[4]
Kollegiale Fallberatung (Intervision) – geeignet als Burn-out-Prophylaxe
Leider stehen für eine Supervision an vielen Schulen weder geeignete (externe) Supervisoren noch die dafür nötigen finanziellen Mittel zur Verfügung. Daher hat sich in letzter Zeit an immer mehr Schulen die sogenannte Intervision etabliert – die Kollegiale (Fall-)Beratung. Gibt man auf Google diesen Begriff ein, kann man dazu folgende Definition finden: „Kollegiale Beratung (Intervision) ist ein Beratungsformat zur ergebnisorientierten Selbstreflexion, bei dem sich Berufstätige in einer Gruppe wechselseitig zu Fällen aus ihrer Berufspraxis beraten. Sie lernen Prinzipien und Methoden kennen, mit denen Sie Intervision erfolgreich realisieren können.“[5]
Und auf Wikipedia wird die Intervision wie folgt beschrieben: „Kollegiale Beratung oder Intervision ist eine Methode, um Lösungen bei fachlichen Fragen zu finden, meist in den Bereichen Medizin, Psychologie, Pädagogik und Sozialarbeit. Entscheidend ist, dass sich Gleichgestellte gegenseitig beraten. Anders als bei der Supervision, dem Coaching oder der Balint-Gruppe, wo ein besonders ausgebildeter Berater diese Aufgabe übernimmt.“[6]
Historisch gesehen hat sich die Intervision aus der Supervision entwickelt. Das Ziel dabei ist es, sich kollegial auch ohne Supervisor beraten zu können und gerade so die eigene Beratungskompetenz zu stärken. Der Ablauf solch einer gemeinsamen Beratungssitzung wird wie folgt beschrieben:
„Einander gleichgestellte Angehörige psychosozialer Berufe treffen sich zur gegenseitigen Beratung. Einer erzählt sein Problem und stellt eine damit verbundene Frage. Die anderen beleuchten gemeinsam das Problem und versuchen, Antworten und Lösungen zu finden. Nacheinander können so mehrere Fragestellungen bearbeitet und gelöst werden.“[7]
Kollegiale Beratung (KB) konkret
Für die konkrete Durchführung einer Kollegialen Beratung in einer Lehrergruppe braucht es eine(n) FallgeberIn und eine(n) ModeratorIn/LeiterIn. Bei einer regionalen Lehrerfortbildung mit einer Gruppe von zwölf PädagogInnen aus verschiedenen Schularten im Frühjahr 2023 wurde für den Ablauf der KB folgendes vorgeschlagen:
(a) Regeln für den Ablauf der KB
- Leitung: Sorgt für Einhaltung des Rahmens und ist Wächter der Zeit.
- FallgeberIn: Hat maximal zehn Minuten Zeit zur Schilderung des Problems, die anderen hören zu.
- Kurze Verständnis-Rückfragen der anderen TeilnehmerInnen (=TN) möglich danach.
- Bearbeitung in Stillarbeit mit Hilfe folgender Fragen (ca. 7 Minuten):
(a) „Kenne ich einen ähnlichen Fall aus eigenem Erleben? Wie habe ich ihn gelöst?“
(b) „Worum geht es wirklich, d.h. worin liegen die tieferen Ursachen bei dem aktuellen Fall?“
(c) „Was kann ich meinem Kollegen/meiner Kollegin konkret raten? Welche Schritte?“
- Jeder TN bringt dann der Reihe nach seine Lösungsantworten im Plenum ein. Der/die FallgeberIn hört zu, nur Nachfragen zum besseren Verständnis sind erlaubt.
- Zum Schluss wird der/die FallgeberIn gefragt, was für ihn/sie brauchbar war aus den Antworten.
- Blitzlicht-Schlussrunde für alle: „Was habe ich heute aus dem Fall gelernt?“
(b) Rahmenbedingungen, für das Funktionieren der KB
- Einhaltung der Schweigepflicht als unbedingte Voraussetzung.
- Intention des Treffens muss allen von vorneherein klar sein: kollegiale Fallberatung.
- Es empfiehlt sich, dass eine feste Gruppe für einen bestimmten Zeitraum entsteht.
- Jeder/jede TN ist potentielle(r) FallgeberIn und BeraterIn, sowie LeiterIn des Treffens.
- Jedes Treffen muss von jemanden geleitet werden. Dies sollte von vorneherein klar sein.
- Jedes Treffen sollte klar strukturiert sein.
- Der/die FallgeberIn sollte sich bei der Vorstellung seines/ihres Problems auf zehn Minuten beschränken.
- Es sollte sich bei den Treffen nicht um ein billiges „Sich-gegenseitig-nur-Auskotzen“ gehen.
- Es empfiehlt sich, das Treffen mit einer Blitzlicht-Runde abzuschließen.
- Die Gruppentreffen sollten regelmäßig sein – etwa einmal pro Monat oder sogar alle 14 Tage.
Fazit
Bei dem oben genannten Fortbildungstag haben sich diese Regeln und Rahmenbedingungen bezüglich der Kollegialen Beratung als sehr praktikabel erwiesen. Ich kann daher suchende KollegInnen nur dazu ermutigen, an ihrer Schule mit Gleichgesinnten solch eine Kollegiale Beratungs-Gruppe zu installieren: als eine Maßnahme von Hilfe zur Selbsthilfe im stressigen Schulalltag.
Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass sich der dazu notwendige zusätzliche Zeitaufwand fast immer lohnt, weil durch die konkrete Besprechung und Lösung von Konfliktfällen womöglich schon kurzfristig und praktisch eine wesentliche Ent-Stressung der Betroffenen erreicht werden kann. Eine Verbesserung der allgemeinen Arbeitsbedingungen durch das verantwortliche Kultusministerium kann dagegen bis zum Nimmerleinstag dauern…
Einen weiteren wichtigen Effekt in dieser Arbeit kann ich in der Solidarisierung und gegenseitigen Unterstützung der KollegInnen untereinander erkennen, was zu mehr Entspannung und Berufsfreude führen, sowie das berufsbedingte Isolationsgefühl (Einzelkämpfertum) vieler Lehrkräfte wesentlich vermindern kann. Außerdem kann es sehr motivierend sein, gerade mit Hilfe der Kollegialen Beratung aus einem lähmenden, passiven und ohnmächtigen Gefühl des Opferseins bezüglich der Schulstrukturen heraus und wieder in ein aktives, lebendiges und würdevolles Handeln zu kommen. Peter Maier (Gymnasiallehrer a. D., Supervisor, Autor)
Literatur zur Pädagogik:
Peter Maier: „Schule – Quo Vadis? Plädoyer für eine Pädagogik des Herzens“
ISBN: 978-3-95645-659-6 (20,99 €, Epubli Berlin)
eBook: ISBN: 978-3-752956-93-1 (12,99 €)
Weitere Infos und Buch-Bezug: www.initiation-erwachsenwerden.de
Literatur zur Gesundheit:
Peter Maier: „Heilung – Plädoyer für eine integrative Medizin“ (Softcover)
ISBN: 978-3-752953-99-2 (Preis: 18,99 €, Epubli Berlin, 1. Auflage 2022)
eBook: ISBN: 978-3-752952-75-9 (Preis: 12,99 €, Epubli Berlin, 2022)
Nähere Infos und Buchbezug: www.alternative-heilungswege.de
Zitate
[1] Stellungnahme der Ständigen Wissenschaftlichen Kommission der Kultusministerkonferenz vom 27.01.2023: Empfehlungen zum Umgang mit dem akuten Lehrermangel. 5. Vorbeugende Maßnahmen zur Gesundheitsförderung, S. 25- 28
[2] ebd. S. 25 und Robert Bosch Stiftung vom Frühjahr 2022: Das Deutsche Schulbarometer. Aktuelle Herausforderungen der Schulen aus Sicht der Lehrkräfte, S. 5-6 (Überblick)
[3] ebd. (SWK-Paper) S. 28
[4] Vgl. Robert Bosch Stiftung Herbst 2022: Das Deutsche Schulbarometer. Aktuelle Herausforderungen der Schulen aus Sicht der Schulleitungen. Punkt 7: Hoher Fortbildungsbedarf zum Umgang mit psychosozial belasteten Kindern, S. 18
[5] Begriff „Kollegiale Beratung“ auf Google vom 20.3.2023
[6] Wikipedia-Eintrag vom 20.3.2023 zum Begriff „Intervision“.
[7] Ebd.
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