BERLIN. Nach Erscheinen der Iglu-Studie, die – einmal mehr – deutlich macht, dass jeder vierte Viertklässler nicht richtig lesen kann, rückt der Verband Bildung und Erziehung (VBE) den Fokus auf die Bedingungen in den Grundschulen. „Nach dem IQB-Schock war zu erwarten, dass auch die Iglu-Studie das mangelnde Lesevermögen in der vierten Klasse zeigen wird. Die Frage ist doch aber, was jetzt getan wird”, sagt der VBE-Bundesvorsitzende Gerhard Brand.
Weiter erklärt er: „Das Messen der Wissenschaft und das Klagen der Politik kennen wir schon. Wahrscheinlich wird es sogar jemanden geben, die nun ein neues Schulfach ‚Lesen‘ fordert. Aber wie will Politik denn wirklich Schulen und Lehrkräfte entlasten, sodass der Fokus auf die Vermittlung basaler Kompetenzen gelingt?“
Brand betont, dass auch die Pandemie einen Teil zu den schlechten Ergebnissen beigetragen habe. „Bei den aktuellen Debatten um die IQB- und jetzt auch Iglu-Ergebnisse wird außer Acht gelassen, wie langsam sich der Betrieb nach der Coronapandemie erholt und wie schwerwiegend die Störung war. Was wir jetzt wirklich brauchen, ist Zeit und die Möglichkeit, Struktur zu schaffen und zu geben. Stattdessen werden weiter immer mehr Aufgaben an Schule gegeben, sodass die effektive Lernzeit immer geringer wird.“
Brand weist außerdem darauf hin, dass es in den letzten Jahren eine große Herausforderung war, im laufenden Schuljahr geflüchtete Kinder in die Lerngruppen zu integrieren: „Es ist essenziell für die Integration der Geflüchteten, sich die deutsche Sprache anzueignen. Lesen und Schreiben zu können, sind Schlüssel für das weitere Leben hier. Es ist aber unbestritten, dass es schlicht länger dauert, neu ankommenden Kindern aus anderen Sprachräumen die deutsche Sprache näherzubringen als jenen, die schon hier aufgewachsen sind. Deshalb brauchen wir mehr Lehrkräfte mit Kenntnissen in der Vermittlung von Deutsch als Fremd- oder Zweitsprache. Zudem benötigen wir die Zusammenarbeit in multiprofessionellen Teams, insbesondere auch, um die Kinder mit teils schwerwiegenden Traumata bestmöglich psychologisch zu begleiten.“
„Die für die Bildungspolitik Verantwortlichen müssen sich die Daten und Empfehlungen genau anschauen, denn sie sind in erster Linie gefordert – nicht die Lehrkräfte und nicht die Schülerinnen und Schüler“
Anne Deimel, Landesvorsitzende des VBE Nordrhein-Westfalen, schlägt in die gleiche Kerbe.
„Die Ergebnisse der IGLU-Studie sind nicht überraschend und zeigen auf ein Neues, dass die Kollegien der Grundschulen auf eine umfangreiche Unterstützung angewiesen sind, damit sie ihrem Bildungsauftrag in umfassender Weise gerecht werden können”, sagt sie. „Die notwendigen Konsequenzen sind klar: Die Kolleginnen und Kollegen in den Schulen brauchen Zeit für die Kinder und Entlastung. Nur dann kann ein Unterricht gelingen, der die Abwärtsspirale bei den Lesekompetenzen der Schülerinnen und Schüler aufhält und in eine positive Richtung dreht.“
Zu den vorgeschlagenen Umsetzungsmaßnahmen für eine bestmögliche Förderung stellt der VBE NRW fest:
- Ein qualitativ hochwertiger Leseunterricht erfordert ausgebildete Lehrkräfte und kleinere Klassen, um alle Kinder bei der Entwicklung ihrer individuellen Lesekompetenzen gut begleiten zu können.
- Das Aufholen von frühzeitig erkannten lesebezogenen Kompetenzrückständen in homogenen Kleingruppen ist zu begrüßen, in den meisten Grundschulen in NRW aber aktuell leider nicht durchführbar. Dafür fehlen die Fachkräfte und oft auch die Räumlichkeiten.
- Kinder mit einem besonderen Förderbedarf benötigen darüber hinaus mehr individuelle Unterstützung. Fakt ist leider, dass auch hierfür die notwendigen Fachkräfte in den Grundschulen nicht vorhanden sind.
- Die gezielte Nutzung der Zeiten im Rahmen des Ganztags zur Förderung der Lesekompetenzen mit entsprechend qualifiziertem Personal ist aktuell an den meisten Grundschulen eine reine Wunschvorstellung.
Anne Deimel: „Die für die Bildungspolitik Verantwortlichen müssen sich die Daten und Empfehlungen genau anschauen, denn sie sind in erster Linie gefordert – nicht die Lehrkräfte und nicht die Schülerinnen und Schüler. Schulen möchten das Lernen in Kleingruppen ermöglichen, möchten individuell fördern, doch sie verbringen ihren Alltag damit, gegen den Lehrkräftemangel anzukämpfen und ihr System am Laufen zu halten. Die Ergebnisse dieses internationalen Vergleichs der Lesekompetenz von Grundschulkindern sind das Ergebnis jahrelang verfehlter Personalpolitik im Schul- und Bildungsbereich.“
Iglu zeige außerdem auf, dass die substanziellen sozialen und migrationsbedingten Disparitäten seit 2001 nicht reduziert werden konnten. In 20 Jahren hat sich im Hinblick auf die Bildungsgerechtigkeit und Chancengleichheit praktisch nichts verändert.
Hierzu Anne Deimel: „Es ist ein Armutszeugnis für unsere Gesellschaft, dass in öffentlichen Reden immer wieder die Bedeutung von Bildungsgerechtigkeit und Chancengleichheit betont wird, wir diesem Ziel aber keinen Schritt näherkommen. Jedes Kind hat das Recht auf eine gute Bildung. Jedes Kind benötigt gute Lesekompetenzen. Nach diesem erneuten Befund können wir es uns als Gesellschaft nicht leisten, einfach weiterzumachen. Die Grundschulen haben die größtmögliche Unterstützung verdient. Dass die Grundschulen in NRW seit Jahren den letzten Platz bei den Bildungsausgaben je Kopf belegen, macht angesichts der neuen Erkenntnisse fassungslos.“ News4teachers