WIEN/BERLIN. Auch in der Schule gilt Talent zumindest implizit als ein wichtiger Erfolgsfaktor. Doch das benachteiligt junge Menschen mit niedriger sozioökonomischer Herkunft zusätzlich, stellen Wissenschaftlerinnen der Universitäten Wien und Berlin fest.

Erfolgschancen von Menschen hängen stark von ihrer sozialen Herkunft ab. So durchlaufen Kinder von Akademikerinnen und Akademikern häufig selbst akademische Karrieren, während in Armut aufwachsende Kinder oft auch als Erwachsene arm bleiben. Dabei spielen auch soziale Faktoren eine Rolle. Menschen mit niedrigerem sozioökonomischem Hintergrund werden zum Beispiel häufig von anderen – wie etwa ihren Lehrerinnen und Lehrern – als weniger talentiert eingeschätzt, was zu Diskriminierungserfahrungen beitragen kann. Aber wie wirken sich die sozioökonomische Herkunft und die damit verbundenen Erfahrungen auf die Selbstwahrnehmung von Menschen aus? Und wie beeinflusst diese sozialisierte Selbstwahrnehmung die weitergehenden Erfolgschancen?
Die Sozialpsychologin Christina Bauer und ihre Kolleginnen der Universität Wien und der Freien Universität Berlin kennen die Antwort. Menschen mit niedriger sozioökonomischer Herkunft halten sich für weniger talentiert, selbst wenn sie die gleichen Leistungen wie Personen mit höherem sozioökonomischem Hintergrund zeigen. Diese Fehleinschätzung trägt in Folge zu ihrer weiteren Benachteiligung bei, fassen sie die Kernaussagen ihrer aktuellen Forschungsarbeiten zusammen.
Niedriger sozioökonomischer Status – weniger Talent?
Um die Zusammenhänge von sozioökonomischer Herkunft und Selbstwahrnehmung zu untersuchen, führte das Team um Christina Bauer sechs Studien mit über 3.000 Menschen in verschiedenen Ländern durch. Schon bei 14-jährigen Schülerinnen und Schülern mit niedrigem sozioökonomischem Hintergrund zeigte sich dabei eine sozialisierte Verzerrung der Selbstwahrnehmung. Die betroffenen Schülerinnen und Schüler hielten sich selbst dann für weniger talentiert, wenn sie genauso gute Noten wie ihre Mitschülerinnen und Mitschüler vorweisen konnten.
Diese Selbstwahrnehmung bleibe nicht ohne Konsequenzen, so die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler: Sie trage dazu bei, dass sich Menschen mit niedrigem sozioökonomischem Status in Leistungskontexten weniger wohl fühlen und sich deshalb dort weniger einfach einbringen können. Das habe dann allerdings weitreichende Konsequenzen für ihre realen Erfolgschancen.
Fleiß-Prinzip statt Talente-Fokus als mögliche Lösung
Eine Möglichkeit, Benachteiligungen abzufedern, sei, die Bedeutsamkeit von Eigenschaften wie Fleiß und harter Arbeit anstatt Talent gesellschaftlich stärker anzuerkennen. Menschen mit niedrigerem sozioökonomischem Status hielten sich nämlich für weniger begabt, aber nicht für weniger fleißig. In einem seiner Experimente konnte das Forschungsteam zeigen, dass Benachteiligungen von Studierenden mit niedrigerer sozioökonomischer Herkunft beim Universitätsstudium vermindert werden konnten, wenn Fleiß statt Talent als ausschlaggebend für ihre Leistungen betont wurde. Anders war es, wenn seitens der Universität betont wurde, dass Talent besonders wichtig sei. Dann war ihre Benachteiligung besonders stark ausgeprägt.
In weiteren Studien planen die Forscherinnen nun, sich genauer mit den Sozialisationsprozessen zu beschäftigen, die verzerrte Selbstwahrnehmungen hervorrufen. Dabei vermuten sie, dass verschiedene Prozesse – z. B. Stereotype, aber auch unterschiedliche Erfahrung mit Herausforderungen, die als Zeichen für fehlendes Talent missinterpretiert werden könnten – eine Rolle spielen. (zab, pm)
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