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Gehen hochbegabte Kinder im starren Schulsystem (allzu häufig) unter? Gesellschaft schreibt Brandbrief an die Kultusminister

BERLIN. Etwa 300.000 Kinder in Deutschland gelten als hoch- bzw. höchstbegabt, weil sie mit einem IQ von über 130 bzw. 145 Punkten weit über dem bundesweiten Durchschnitt von 100 liegen. In der Schule werden ihre Bedürfnisse oft vernachlässigt – meint jedenfalls die Deutsche Gesellschaft für das hochbegabte Kind (DGhK). Sie fordert die Kultusministerinnen und Kultusminister auf, Maßnahmen im Sinne der Betroffenen zu ergreifen. Das meint unter anderem: das Schulsystem zu flexibilisieren.

Hochbegabungen werden nicht immer erkannt – auch deshalb, weil es keine systematischen Tests gibt (Symbolfoto). Foto: Shutterstock

Das Potential von hoch- und höchstbegabten Kindern müsse erkannt und entsprechend gefördert werden. „Bis dahin ist es oft ein langer Weg voller Missverständnisse, Fehldiagnosen, Vorurteile und bürokratischer Hürden“, meint die DGhK. „Viele Familien scheitern in diesem Kampf und müssen miterleben, wie ihre Kinder immer unzufriedener und verhaltensauffälliger werden. Nicht selten bleibt ihnen nur noch die Abwanderung ins Ausland. Vor allem das starre Schulsystem stellt Eltern mit hoch- oder höchstbegabten Kindern vor enorme Herausforderungen.“ Die Gesellschaft fordert das Bundesbildungsministerium und die Kultusministerien der Länder jetzt in einem „Brandbrief“ zum Handeln auf.

„Wir wollen nicht länger tatenlos dabei zusehen, wie hoch- und höchstbegabte Kinder im Schulunterricht vernachlässigt und massiv unterfordert werden. Der dadurch verursachte Stress hat fatale Folgen für deren Lernmotivation und Gesundheit“, warnt Sven Koschik, Präsident des DGhK-Bundesvereins. „Unser Bildungssystem muss viel gezielter auf die Bedürfnisse dieser Kinder eingehen, die bei sinnvoller Förderung und geeigneter Lernumgebung Freude an ihrer Begabung entwickeln und zu Hochleistungen fähig wären. Dieses große Potential sollten wir nicht verschenken.“

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„Hoch- und höchstbegabte Kinder sollten es deutlicher einfacher haben, ihre Bedürfnisse im schulischen Kontext um- und durchzusetzen”

Um hoch- und höchstbegabte Kinder gesund und erfolgreich durch die Schulzeit zu geleiten, brauche es neben einer höheren Aufmerksamkeit und Sensibilisierung für dieses Thema vor allem deutlich mehr Flexibilität im Schulsystem. Wie konkret das aussehen kann, beschreibt die DGhK im Brandbrief in ihrem zwölf Punkte umfassenden Forderungskatalog. Dazu zählen beispielsweise das Recht auf Früheinschulung, die Erlaubnis von mehrfachen Klassensprüngen in kurzen Zeiträumen, der Erwerb von Abschlussprüfungen ohne Altersgrenze und die Möglichkeit einer individuellen Beschulung.

„Hoch- und höchstbegabte Kinder sollten es deutlicher einfacher haben, ihre Bedürfnisse im schulischen Kontext um- und durchzusetzen und stärkere Unterstützung von allen Seiten erhalten. Dafür müssen Familien, Behörden, Bildungspolitik und Schulen an einem Strang ziehen und miteinander statt gegeneinander arbeiten“, fordert DGhK-Vizepräsidentin Sabrina Henning.

Hintergrund: Die DGhK ist ein bundesweit tätiger gemeinnütziger Verein, der sich für die Förderung hochbegabter Kinder und Jugendlicher einsetzt. Er ist untergliedert in einen Bundesverein und vierzehn Regionalvereine. Im Jahr 1979 auf Initiative der Lehrerin Annette Heinbökel als Anlaufstelle für Eltern, Lehrkräfte und Interessierte in Hamburg gegründet, gehören dem Verein mittlerweile über 3.000 Mitglieder bzw. Familien an. In der DGhK werden hochbegabte Kinder und deren Eltern beraten, Förderangebote für hochbegabte Kinder zur Verfügung gestellt sowie Lehrkräfte und Kita-Fachkräfte beraten und fortgebildet. News4teachers

Im Wortlaut

Im Brief der Deutsche Gesellschaft für das hochbegabte Kind (DGhK) heißt es wörtlich: „Um hoch- und höchstbegabte Kinder gesund und erfolgreich durch die Schulzeit zu geleiten, braucht es mehr Flexibilität und Unterstützung von Politik und Schule. Unsere konkreten Forderungen sind wie folgt:

  1. Hoch bzw. Höchstbegabung und ihre Förderung muss zum Pflichtnhalt in der Ausbildung und im Studium aller angehenden LehramtsanwärterInnen und PädagogInnen werden. Dies sollte auch für qualitätssichernde und entscheidungstragende Organe wie MitarbeiterInnen von z.B. Schulaufsichtsbehörden gelten.
  2. Eine Früheinschulung muss bei Vorliegen einer Hoch- bzw. Höchstbegabung eine rechtssicher zugestandene Standardmöglichkeit sein und darf nicht als regulärer Sprung gezählt werden. Auch eine Quereinschulung in Klassenstufe zwei muss in jedem Bundesland für hoch- und höchstbegabte Kinder rechtlich möglich gemacht werden.
  3. Die Feststellung einer Hoch- bzw. Höchstbegabung muss mit geeigneten Screening-Methoden Teil der Schuleignungsuntersuchung oder der U-Untersuchungen beim Kinderarzt werden. Mindestens müssen Kinder ein Recht auf eine kostenfreie Intelligenztestung erhalten.
  4. Hoch- und höchstbegabten Kindern muss ein Recht auf Zugang zu einer Schule mit Begabungsschwerpunkt oder Hochbegabtenklassen eingeräumt werden.
  5. Mehr Flexibilität bei der Umsetzung von Akzeleration (Klassensprüngen): Dies beinhaltet die Möglichkeit von Mehrfachsprüngen in kurzen Zeiträumen und Doppelsprüngen. Sprünge müssen in jeder Klassenstufe und basierend auf Potential (Höhe IQ) und Unterforderungszeichen wie Notenabfall anstatt auf Basis von Hochleistung ermöglicht werden.
  6. Es muss das Recht auf eine Schulbegleitung und einen Nachteilsausgleich (in bspw. Schreiben und Sport) infolge eines großen Altersunterschieds als Ergebnis einer Akzeleration geben.
  7. Bei sogenannten Drehtürmodellen (Unterrichtsteilnahme in einem Fach in einer höheren Klassenstufe) müssen die Leistungsnachweise den Inhalten angepasst werden, anstatt Leistungsnachweise auf einem niedrigeren Niveau wie Klausuren in der eigenen Klassenstufe zu fordern.
  8. Das Vermitteln von Unterrichtsinhalten auch sehr viel höherer Klassen für jüngere SchülerInnen muss für hoch- und höchstbegabte Kinder grundsätzlich und ohne Ausnahme erlaubt werden.
  9. Das Erbringen von Zeitnachweisen beim Erlernen einer Fremdsprache muss flexibilisiert werden. Für hoch- und höchstbegabte Kinder sollten entweder Leistungsnachweise der erlernten Fremdsprache einem Zeitnachweis (Unterrichtsjahre in einer bestimmten Sprache) gleichgesetzt werden oder bei einem Klassensprung gilt der Zeitnachweis automatisch als gegeben, wenn die Note in dem Fach mindestens ausreichend ist.
  10. Der Erwerb einer Abschlussprüfung muss für hoch- und insbesondere für höchstbegabte Kinder ohne Altersgrenze möglich gemacht werden. Eine Flexibilisierung der Regelung ist dringend notwendig, um die Kinder vor chronischer Unterforderung und deren Folgen an der Schule zu schützen und früher den motivierenden Zugang zum Studium zu ermöglichen.
  11. Bei nachweislicher Gefährdung der Gesundheit des Kindes aufgrund der schulischen Situation muss es ein Recht auf eine dauerhafte, individuelle Beschulung geben. Dies umfasst für hoch- und insbesondere höchstbegabte Kinder explizit die Möglichkeit zum Homeschooling und/oder Online-Unterricht an einer anerkannten Schule und ein Lernen oder Voranschreiten im eigenen Tempo, wie es in vielen anderen Ländern (z.B. Dänemark und Österreich) zum Wohle der Kinder erfolgreich praktiziert wird.
  12. Im Falle einer Online-Beschulung muss den Kindern das Recht auf einen Schulabschluss im eigenen Bundesland gewährt werden.”

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