Website-Icon News4teachers

„Nie die Hoffnung nehmen“: Warum sich die Geschichte von Anne Frank für Kita-Kinder (noch) nicht eignet

TANGERHÜTTE. Es herrscht Aufregung um eine Kita in Sachsen-Anhalt, die ihren Namen („Kindertagesstätte Anne Frank“) ändern möchte. Dabei gäbe es gute pädagogische Gründe für den Schritt.

„Meine Haftnummer ist eigentlich meine Glücksnummer. Sie war mein Todesurteil. Aber ich habe überlebt – und sie erinnert mich täglich daran“: KZ-Gedenkstätte Auschwitz. Foto: Shutterstock

Schon Kinder ab drei Jahren werden über die Judenverfolgung und den Holocaust aufgeklärt – in Israel. Es handele sich um „das erste vollständige Unterrichtsprogramm zum Völkermord an den Juden, das sich an alle Schüler von der Vorschule bis zum Abitur richtet“, erläuterte das israelische Bildungsministerium seinerzeit zur Einführung, was erst knapp zehn Jahre zurückliegt. Wichtige Einschränkung: Die „altersabhängige Befähigung, das Gelernte zu begreifen und emotional zu verarbeiten“ werde dabei berücksichtigt, wie der „Spiegel“ seinerzeit berichtete.

Tatsächlich war auch in Israel die Idee, schon mit Dreijährigen über die Shoa zu sprechen, höchst umstritten. In sozialen Netzwerken wurde hitzig darüber diskutiert, ob das angemessen ist – oder ob die Kinder damit überfordert würden.

Anzeige
PhoneLocker, verschließbare Smartphone-Tasche

„Man kann das sehr wohl vermitteln und gerade in der Migrationsgesellschaft muss man das sogar vermitteln“

In einer Begleitbroschüre erklärte das Bildungsministerium allerdings, dass gerade jüngere Kinder traumatisiert werden können, wenn sie an den israelischen Gedenktagen mit dem Holocaust konfrontiert werden, ohne zuvor davon erfahren zu haben. Ihnen müsse vermittelt werden, dass die Sirenen, die dann im ganzen Land ertönen, an eine schwierige Zeit erinnern – in ferner Vergangenheit. Das Thema soll aber nur vor und nach den Gedenktagssirenen besprochen werden. Ansonsten werde sich am gewohnten Tagesablauf in den Kitas nichts ändern, hieß es.

So einfach, wie zum Beispiel der Antisemitismusbeauftragte von Sachsen-Anhalt Wolfgang Schneiß behauptet („Man kann das sehr wohl vermitteln und gerade in der Migrationsgesellschaft muss man das sogar vermitteln“), ist es also nicht, Kita-Kindern die Ermordung von Anne Frank und sechs Millionen Juden nahezubringen.

Hintergrund: Überlegungen im sachsen-anhaltinischen Tangerhütte, der städtischen Kita „Anne Frank“ im Zuge eines neuen pädagogischen Konzepts einen neuen Namen zu geben (der alte stammt noch aus DDR-Zeiten), sorgten für massive und einhellige Kritik. „Es ist wichtig, jüdische Geschichte in Sachsen-Anhalt lebendig zu halten. Anne Frank und nach ihr benannte Einrichtungen gehören auch zu unserer Erinnerungskultur für jüdisches Leben und gegen den Nationalsozialismus“, erklärte etwa Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Reiner Haseloff (CDU).

Zwar deutet sich an, dass die Kommune – aufgeschreckt durch die Reaktionen – das Vorhaben fallen lässt, das offenbar vom Kita-Kollegium angeschoben wurde. Gleichwohl bleibt die Frage offen: Wie erkläre ich denn den Kindern, nach wem die Kita benannt ist, in die sie Tag für Tag gehen?

„Die Kennzeichnungspflicht der Juden in den NS-besetzten Ländern, die Phase der Ghettoisierung und ihre Auswirkung auf das Leben der Opfer, deren faktische Ahnungs- und Hilflosigkeit, ihre Überlebensstrategien sowie die Hilfe als auch der Verrat, den sie durch ihre nicht-jüdische Umwelt erfuhren, die Befreiung und der Aufbau eines Lebens nach (und mit) dem Trauma der Verfolgung: All das sind wesentliche Bestandteile der Geschichte des Holocaust, die von jungen Lernenden erschlossen werden können“, so heißt es bei der Gedenkstätte Yad Vashem, die für das Curriculum zum Thema in den Vorschulen und Schulen Israels mitverantwortlich war.

Weiter heißt es dort mit Blick auf junge Kinder: „Der Verzicht auf eine Thematisierung des eigentlich genozidalen Grundvorgangs – des massenhaften Ermordens von Menschen – scheint bei einer Beschränkung auf diese Lernziele nicht nur vertretbar, sondern Grundvoraussetzung dafür zu sein, dass ein empathischer Lernvorgang überhaupt in Gang gesetzt werden kann. Dabei geht es nicht um die künstliche Herstellung einer ‚Lightversion‘ des Holocaust, sondern um das bewusste Aussparen von Lerninhalten mit traumatisierendem Potential, ohne jedoch auf eine klare und eindringliche
Beschreibung der Verluste, die Menschen zugefügt wurden, zu verzichten.“

„Es wird die Geschichte eines Protagonisten gewählt, der überlebt hat und dem Hilfe von außen zuteil wurde“

Als Kriterium bei der Materialauswahl sollte berücksichtigt werden: „Die Narration enthält positive Aspekte: Es wird die Geschichte eines Protagonisten gewählt, der überlebt hat und dem Hilfe von außen zuteil wurde. Die Familienkonstellation des Protagonisten ist nicht zerrüttet, sondern von Zusammenhalt und Solidarität gekennzeichnet. Die Geschichte des Protagonisten nach der Befreiung ist Teil der Narration und bietet den Lernenden den Blick auf die Person des Überlebenden, die Schritte zurück ins Leben unternimmt, Entscheidungen trifft und sich bei allen Schwierigkeiten als lebens- und liebesfähig erweist.“

Die tragische Geschichte von Anne Frank erfüllt diese Bedingungen größtenteils nicht. Der Landesbildungsserver Baden-Württemberg etwa gibt für ihr Tagebuch eine Altersempfehlung „ab 12 Jahren“ – sie liegt also deutlich über dem Kita-Alter.

Das heißt nun aber nicht, dass das Thema Judenverfolgung und Holocaust in Kitas ausgespart werden muss, im Gegenteil. „Gerade Kindern“ müsse das Unrecht von damals vermittelt werden, um künftiges zu verhindern, sagt Batsheva Dagan. Natürlich sei dabei behutsam vorzugehen. Bewusst knüpfe sie deshalb am Konzept von Märchen an. Die 98-Jährige muss es wissen: Sie ist Kinderpsychologin – und Auschwitz-Überlebende, die regelmäßig in Kitas und Schulen (auch in Deutschland) auftritt. Ihre Bücher gehören zum Bestand in israelischen Kindergärten – Bücher wie „Chika, die Hündin im Ghetto“.

Es geht darin um die Freundschaft des Jungen Mikash (5) und der Hündin Chika. Beide müssen sich trennen. Die jüdische Familie lebt im Ghetto, Deportation droht, Vater, Mutter und Sohn verstecken sich im Keller. Der Hund kommt bei einer Bekannten unter. Alle überleben. „Meine Geschichten haben immer ein Happy End“, sagt Batsheva Dagan. Sie betont: „Man darf Kindern nie die Hoffnung nehmen.“

Sie wolle Kinder zum Fragen bringen, sagt die Trägerin des Bundesverdienstkreuzes laut einem Bericht der Landeszentrale für politische Bildung Mecklenburg-Vorpommern. Was sind Ghettos? Warum durften Juden keine Hunde halten? „Chika“ sei ein guter Einstieg. Und wenn Kinder nach der eintätowierten Nummer auf ihrem Arm fragen? „Dann kläre ich sie auf. Und sage ihnen: Meine Haftnummer ist eigentlich meine Glücksnummer. Sie war mein Todesurteil. Aber ich habe überlebt – und sie erinnert mich täglich daran.“

Statt Anne Frank (die sich sehr gut als Namenspatronin für das örtliche Landesbildungszentrum eignen würde) käme für die Kindertagesstätte in Tangerhütte der Name Andrée Geulen in Betracht: Die belgische Lehrerin rettete geschätzt 3.000 jüdischen Kindern das Leben, indem sie sie bei christlichen Familien und in Klöstern versteckte. Diese Geschichte lässt sich auch schon Kita-Kindern vermitteln. News4teachers

Debatte: Warum eine Kita nicht mehr nach Anne Frank heißen will – und wieso das für Empörung sorgt

 

Die mobile Version verlassen